Paul hat einen Artikel gefunden, der von der Notwendigkeit einer zweiten Aufklärung spricht. Auch ich habe vor zweieinhalb Jahren schon einmal eher scherzhaft im Zusammenhang mit zwei berühmt-berüchtigten Landkarten über den Reiz einer neuen Aufklärung nachgedacht.
Das Interessante an Paul's Posting ist, daß dort vom 16., 19. und 21. Jahrhunderte gesprochen wird. Das deckt sich (fast) mit einigen Überlegungen, die ich seit langem mit mir herumtrage, und die ich daher jetzt mal zu formulieren versuche.
Es liegt in der Natur des Kindes, gegen die Fesseln der Erziehung rebellieren zu wollen. Man möchte etwas tun. Man hat zwar den milden Verdacht, daß es von den unmittelbaren Autoritäten nicht gutgeheißen wird, tastet sich aber trotzdem mal ein wenig vor. Wenn ein Bub seiner Mutter gegenüber bösartig ist, gibt's eine Strafe. Sagen wir mal drei Tage Stubenarrest. Der Bub hat einen Schritt gewagt weg von den Einschränkungen, denen er sich unterworfen sah. Er hat dafür die Quittung bekommen. Er geht zurück auf Null und probiert es vielleicht ein anderes Mal mit Schuleschwänzen oder Apfelklauen. Ein erwachsenes Kind rebelliert gegen Papa Staat mit überhöhter Geschwindigkeit in verkehrsberuhigten Gebieten, mit Steuerbetrug, oder - wenn es ärger kommt - mit Gewaltverbrechen. Auch hier folgt auf das Erwischtwerden die Strafe.
Diese Kausalität fehlt in der Beziehung des Menschenkindes zu seinem himmlischen Vater. Oft haben Menschen das Gefühl, gegen Gott rebellieren zu wollen oder zu müssen. Und obwohl - im Gegensatz zu kleinen Buben oder Wohngebietsrasern - jeder Einzelne von ihnen immer erwischt wird (ja, Gott sieht tatsächlich alles), bleibt die direkte Strafe aus. Klar, das Gewissen wird belastet, die Seele wird durch die Sünde korrumpiert, aber das schlägt sich nicht als Bestandteil einer Ursache-Wirkung-Kette im Bewußtsein nieder. Eher spornt das obskure Gefühl des "Verschmutztseins" zu weiteren Untaten gegen Gott an, da Kinder selten wissen, sich glaubhaft zu entschuldigen, wenn sie nicht von einer Autorität dazu angehalten werden. Da die Bestrafung scheinbar nicht erfolgt, muß hier der Bub also nicht auf Null zurückgehen, sondern er versucht nach dem ersten erfolgreichen Schritt irgendwann den nächsten, den noch weiter wegführenden.
Schauen wir mal in die Geschichte und die diversen großen Schritte, mit denen der Mensch sich von Gott löste. Der Erste tarnt sich im 16. Jahrhundert noch unter dem Kampfschrei "Weg von Rom!" der Reformatoren. Doch wo man kühn der Kirche Christi den Rücken zuwenden kann und nicht, wie vielleicht von Einigen befürchtet, sich sofort in einem Schwefelbad wiederfindet, dort schwing sich, wenn neue Ketten vermeintlich zu schwer wiegen, die menschliche Hybris schnell zum nächsten Rufe auf: "Weg von Christus!" heißt es 17. und 18. Jahrhundert, in der Zeit der Aufklärung, die zwar noch Gottheiten zuließ, aber Christus mehr oder weniger als einen Heilsanbieter unter Vielen zu betrachten begann. Doch auch hier war das Potential noch nicht ausgereizt. Angetrieben vom Erfolg der unzähligen Revolutionen und der sich ausbreitenden Freiheiten, mußte eine weitere Fessel fallen. So hieß es dann im 19. Jahrhundert bald "Weg von Gott!". Auch dieser Schritt wurde gehorsam befolgt und brachte gar köstliche Früchte der Freiheit und des Aufblühens der Kultur mit sich. Allein: Weltkriege, Diktaturen und von menschlichen Gottgestalten initiierte Schlachtfeste in atemberaubenden Stile konnten den Durst nach Freiheit immer noch nicht stillen.
Was ist also der letzte Schritt, den der Mensch vollziehen kann, um sich vermeintlicher Fesseln zu entledigen, ohne daß durch das Rütteln an eben diesen Fesseln ein knurriger Hund geweckt wird, der einem vielleicht die Lust am Spielchen verdirbt? Es ist der finale Rettungssprung, der eingeleitet wird mit dem stolzen Ruf "Weg vom Menschen!"
Der Mensch selbst wird sich gegenüber gnädig die Augen schließen, während er sich von seiner Natur lossagt. Es begann bereits im letzten Jahrhundert und nimmt heute immer groteskere Formen an.
Es gibt natürlich zwei gewaltige Probleme: Erstens stirbt die Würde des Menschen, da diese untrennbar mit der Natur des Menschen als nach Gottes Bild geschaffen zusammenhängt. Zweitens stürzt man sich in einen Strudel des grenzenlosen Widerspruchs, wenn man für das Individuum das Höchstmaß an Freiheit ausruft, aber zugleich jedes Individuum, welches von seiner Freiheit gebrauch macht, andere Freiheiten als nicht kompatibel mit seinem Wertesystem zu erklären, mundtot zu machen versucht.
Man sagt, daß jedermann zu jeder Zeit frei ist, zu tun, was immer er will, solange es sich für ihn gut anfühlt und solange er Andere nicht in ihrer Entfaltung behindert.
Da eine letzte, nicht menschgemachte moralische Instanz fehlt, kann man es selbst so drehen, daß Wertvorstellungen, die schon Jahrhunderte existierten, bevor bestimmte Freiheiten sich erstmals konkret in Worten präsentierten, tatsächlich als Angriffe auf diese Freiheiten betrachtet werden und nicht die formulierten Freiheiten als Versuch der Einschränkung dieser Werte gelten.
An dieser Stelle kann eine neue Aufklärung in der Tat Wunder wirken. Wenn der Mensch tatsächlich nicht mehr nur seinen Bedürfnissen folgt und sich die Werkzeuge zur Erlangung derselben von Anderen in die Hand drücken läßt, sondern lernt, seinen Verstand zu benutzen und auf der Suche nach Verfahren, die es ihm gestatten seinen eigenen Forderungen treu zu bleiben, bestimmte Trugbilder zu durchleuchten, dann könnten sich für viele Leute ganz neue Wege auftun.
2 days ago
7 comments:
Was genau meinst Du denn mit folgendem Absatz?
"Der Erste tarnt sich im 16. Jahrhundert noch unter dem Kampfschrei "Weg von Rom!" der Reformatoren. Doch wo man kühn der Kirche Christi den Rücken zuwenden kann und nicht, wie vielleicht von Einigen befürchtet, sich sofort in einem Schwefelbad wiederfindet, dort schwing sich, wenn neue Ketten vermeintlich zu schwer wiegen, die menschliche Hybris schnell zum nächsten Rufe auf: "Weg von Christus!" heißt es 17. und 18. Jahrhundert, in der Zeit der Aufklärung, die zwar noch Gottheiten zuließ, aber Christus mehr oder weniger als einen Heilsanbieter unter Vielen zu betrachten begann."
Das "Weg von Rom!", wenn es denn überhaupt je ein "Kampfschrei" war, war von den Reformatoren gerade nicht als Initiation eines "Weg von Christus!" gedacht, sondern gerade als ein neues "Hin zu Christus!". Es war auch keine Abwendung von der Kirche Christi, sondern eine Erinnerung daran, daß die Kirche, wenn sie denn wahrhaft Kirche sein möchte, Kirche Christi sein muß.
Daß man hinsichtlich der Einzelheiten dies- und jenseits des römisch-katholisch/protestantischen Grabens geteilter Meinung ist und sein kann, dürfte klar sein. Nur: die Reformatoren und diejenigen, die das reformatorische Erbe wahren wollten und wollen, würden gewisse Implikationen der Aufklärung, die ein tatsächliches "Weg von Christus!" darstellen, niemals als direkte Folge der Reformation gelten lassen, sondern gerade als Perversion des reformatorischen Gedanken.
Vor diesem Hintergrund frage ich mich, wen genau Du mit diesem Absatz eigentlich meinst?
Deinen Grundgedanken dagegen kann ich gut nachvollziehen. Das Problem, das darin zum Ausdruck kommt, wird ja auch unabhängig von der jeweiligen Konfession immer stärker wahrgenommen.
Da habe ich mich tatsächlich etwas unsauber ausgedrückt, sorry: Ich wollte nicht sagen, daß das "Weg von Christus" zwangsläufig eine direkte Folge des Reformation war, sondern eine Folge des während der Reformation gegebenen Beispiels, welches bei Leuten, die nicht den Ernst oder den Willen mitbrigen, wie ihn manche Reformatoren aufwiesen, einfach zu einem blinden Weiterstolpern hinweg von Autoritäten führt.
Danke für die "Aufklärung"! :-)
So kann ich das auch unterschreiben.
LG,
Tobias :-)
Das verdient, in Buchform - oder zumindest als Essay - ausformuliert zu werden.
Etwas flapsig und gefährlich verkürzt gefragt: Wo liegt der Unterschied zwischen einer neuen Aufklärung und der Rechristianisierung Europas?
Danke, Paul!
Da Christus das Licht der Welt ist und "Aufklärung" ja alles andere als Finsternis suggeriert, würde ich auf Deine Frage mit "Es gibt keinen!" antworten.
War die spätantike Ausbreitung des Christentums eigentlich auch eine »Weg-von-Bewegung«? Wie hat sich denn das vergleichsweise primitive Christentum gegen die hochstehenden Ideologien der Spätantike nach und nach durchsetzen können? Gibt’s da ’n Literaturzitat?
@ ultramontanus: Gute Frage! Mir fällt spontan leider kein Zitat ein.
So aus dem Stehgreif biete ich mal an:
1.) Weg von einem Gottesverständnis, wo YHWH von "außerhalb" seinen Weinstock pflegt hin zu Christus, der mitten unter den Menschen wirkt.
2.) Weg vom Buchstaben des Gesetzes hin zur Erfüllung des Gesetzes durch die Liebe.
3.) Weg von einem Zutrittsverständnis, welches sich sehr auf das konzentriert, was man ist (Israelit), hin zu einem Verständnis, welches darauf schaut, was man tut ("Wer in mir bleibt und der, in dem ich bleibe, bringt viel Frucht"; "Liebet einander, so wie ich auch euch geliebt habe").
4.) Rein "phänomenologisch" sehe ich weniger ein "weg von" sondern eher ein "hin zu" gefolgt von einem "Verbleiben in": Der Messias wurde ja konkret erwartet, also leuchtet es ein, daß die Menschen Christus folgten. Andere Philosophien, Religionen und Mächte verloren ihren Reiz und erzeugten auch mit Gewalt eher Märtyrer als Christus-Leugner. Will sagen: Im Gegensatz zu den von mir beschriebenen "Weg von"-Bewegungen, die sich ja in erster Linie gegen etwas aussprachen (Rom, Christus, Gott), scheint mir das primitive Christentum eher ein Bejahen, eine Bewegung "hin zu" einem seit langem erwarteten Heils- und Friedensbringer zu sein.
Wie gesagt, das ist alles nur aus dem Ärmel geschüttelt, aber vielleicht ist es ja ein Anfang.
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