Monday, April 05, 2010

Beispiel gefällig?

Auf der Titelseite der Presse vom Ostersonntag las ich heute erst den Artikel Die übersexualisierte Gesellschaft. Dieser Artikel endet mit der Feststellung:
    Die Alternative könnte jedoch die völlige pornographische Verrohung und Verblödung sein. Tiefer ist es ja immer noch gegangen.
Der Weg hin zu dieser Erkenntnis ist lang und vor allem holprig. Denn der Autor muß versuchen, jene Schlaglöcher zu vermeiden, die den Anschein erwecken könnten, er gäbe der Kirche recht. Da der Artikel so zu einem echten Paradebeispiel für manipulativ-suggestiven Journalismus mit vielen schönen Widersprüchen und logischen Brüchen wird, gönne ich mir mal die halbe Stunde und kommentiere ihn.

Hier der Artikel mit den üblichen, Father-Z-approveten Einschüben:
    Die katholische Kirche hat zuletzt auf vielen Wegen versucht, mit dem Umstand umzugehen, daß sich Priester sexuell an Kindern vergriffen haben [Der erste, feine, kleine Trick: Bekanntlich befassen sich nicht wenige der Klagen mit körperlicher Gewalt; und diese scheint auch in einigen Fällen nichts weiter gewesen zu sein, als das, was damals halt so üblich war. Nicht, daß es eine Meisterleistung ist, ein ungezogenes Kind zu schlagen, schon gar nicht, wenn man Priester, Mönch oder Nonne ist. Aber es besteht immerhin ein gewaltiger Unterschied zwischen einer Backpfeife und sexueller Belästigung. Wenn jetzt unscharf das Skandalgebrüll im Mediendschungel auf sexuelle Belästigung reduziert wird, schafft man Grauzonen des Verstehens (oder Verstehen-Wollens oder Verstehen-Könnens), in denen im Falle von Synapsen-Zündung sofort die „Sex!“-Funken fliegen, wenn von Mißbrauch die Rede ist. Mir liegt es fern, dem Autor hier Kalkül oder böse Absicht zu unterstellen. Aber – wie so oft in den letzten Monaten – das Thema ist zu ernst, als daß man das Feld schlampigen Formulierungen überlassen darf]. Zu den beeindruckendsten Versuchen zählt das offenherzige und mitfühlende Schuldbekenntnis, das Kardinal Christoph Schönborn diese Woche abgelegt hat [Im Stephansdom gab es eine von WsK mitorganisierte Veranstaltung mit dem Titel „Ich bin wütend, Gott“]. Daneben lag jedoch der Hausprediger des Papstes, als er sich am Karfreitag hinter dem Zitat eines jüdischen Freundes versteckte und antiklerikale Angriffe mit dem Antisemitismus verglich. Das ging sogar dem Sprecher des Vatikans zu weit; erdistanzierte sich.

    Fester verankert im taktischen Fundus der Kirche ist ein anderes Ablenkungsmanöver: Der Papst selbst ließ es aufblitzen, als er in seinem Hirtenbrief an die Iren den sexuellen Missbrauch in den „Gesamtkontext der Säkularisierung“ stellte. Roland-Bernhard Trauffer, der Basler Generalvikar, wurde in der „Berner Zeitung“ deutlicher. „Die Medien blenden den größten Abgrund aus“, sagte er. „Die ganze Gesellschaft krankt an einer deregulierten Sexualität“ [Hier sei noch einmal an die Begriffe „taktischer Fundus“ und „Ablenkungsmanöver erinnert...].

    Dieser Satz verleitet zunächst einmal zu Spott [Durch Weglassen des „mich“ wird die Kommentar-Natur des Folgenden etwas geschwächt, aber keineswegs so sehr, daß man es nicht doch spürte]. Was will der gute Mann denn da genau regulieren? Will er den Oralverkehr und die Hüftjeans verbeiten, will er zum Generalstreik in der Pornoindustrie aufrufen oder gleich auch das Talkshowdauergelaber über Silikonbrüste und Orgasmusschwierigkeiten unter Strafandrohung stellen [Bis hierhin nichts weiter als Vermutungen bzw Unterstellungen, alle unter dem Vorzeichen des „Was wäre, wenn...“. Aber immerhin: Ob absichtlich oder aus versehen: Der Autor legt den Finger genau auf die Leute, die so richtig etwas zu verlieren haben, wenn die Worte der Kirche gehört und umgesetzt werden: Die „Geiz ist Geil“-Konsum-Community mit ihren textilarmen Outfits für Heranwachsende, die Viagra-Hersteller, die Porno-Industrie und die Talkshow-Produzenten mit ihrer Billig-Unterhaltung mit den Lieblingsthemen Sex, Sex, Sex, Familienkrach, Sex, Beziehungskrise und Sex]? Und wer soll in der neuen Regulierungsbehörde Stimme und Sitz haben? Ausschließlich Moraltheologen? Oder reicht es, wenn Beamte des Bundesministeriums für Wirtschaft, Familie und Jugend in Zusammenarbeit mit einer neu zu bildenden Sittenpolizei für Zucht und Ordnung sorgen [Und so einfach ist das heutzutage: Wo im Satz zuvor noch spöttelnd überlegt wurde, ob der Generalvikar etwas regulieren möchte, sind wir plötzlich bei einer neuen „Regulierungsbehörde“ gelandet, samt Sittenpolizei und Zucht und Ordnung].

    Der Generalvikar ist nicht der Erste, der schnell auf die allgemeine Verluderung der Sexualmoral zu sprechen kommt, wenn von Mißbrauchsfällen in der katholischen Kirche die Rede ist [Das liegt daran, daß die katholische Kirche sich bereits seit geraumer Zeit mit dem Problem der etwas zu heiß gegessenen Sexualität befaßt. Im Grunde beginnt der rote Faden schon in Arcanum, der Enzyklika von Leo XIII aus dem Jahre 1880, in welcher eine Beziehung zwischen Säkularisierung und Sexualmoral untersucht wird. Ja, die Kirche mag sich in mancher Beziehung für Außenstehende langsam bewegen. Aber sie erkennt Zusammenhänge früh und oft früher, als manchem lieb ist]. Schon vor ihm haben etliche kirchliche Würdenträger allen Ernstes die These vertreten, dass die 68er die Wurzel allen Übels seien, als ob in jedem pädophilen Priester der Geist von Rudi Dutschke, Rainer Langhaus und (der etwas ältere Geist von) Wilhelm Reich steckte [Der nächste Griff in den „taktischen Fundus“ der „Ablenkungsmanöver“: Das „allen Ernstes“ kann ja nur dazu dienen, die Aussage schon vorab als lächerlich darzustellen. Daß die 68er die „Wurzel allen Übels“ sind, habe ich noch von keinem kirchlichen Würdenträger gehört (nicht, daß es mich nicht gefreut hätte...). Und ob auch nur einer der Würdenträger andeuten wollte, der Geist von Dutschke oder Langhaus oder Reich spuke in pädophilen Priestern herum, wenn sich eine ausreichende Zahl anderer Alt-68er als Vorbilder anbietet, stelle ich zumindest mal in Frage].

    [Bis hierhin reicht der „Ich habe mich geziemend von der Kirche distanziert“-Teil. Nun muß der Autor aber auf die „All-out Sex ohne Schranken ist aber auch nicht so toll“-Schiene zurück und die Distanz einhalten. Woll’n mal schauen...]

    Doch ganz so falsch liegt der Generalvikar auch wieder nicht [Och? So schlicht? Vom Spott, von der Regulierungsbehörde und von „allen Ernstes“ hüpfen wir einfach mal zum „ganz so falsch war’s ja eh nicht“? Die Spannung steigt...]. Abgesehen vom unpassenden Konnex zum Missbrauchsskandal lohnt sich allemal eine Debatte, ob wir in einer Gesellschaft leben wollen, der die Sexualität aus allen Poren rinnt [Hmmm... Ist das vielleicht das moderne Verständnis der Trennung von Kirche und Staat? Wir stellen mal die richtigen Fragen und schauen, wo die Wunden klaffen, aber wenn die Kirche da mitspielen will, dann ist es unpassender Konnex? Interessant]. Pornographie ist nicht nur zum Maßstab für Sexualverhalten geworden, sie prägt Mode, Popkultur und Schönheitsvorstellungen.

    [Warnung! Der folgende Absatz kommt sprachlich sehr versaut daher. Leute mit schwachen Nerven betreten ihn auf eigene Gefahr!]

    Wenn sich Jugendliche plötzlich glatt rasieren wie Pornostars, wenn Rapper übers Arschficken sinnieren, wenn man per E-Mail ständig Einladungen zur Schwanzverlängerung erhält, wenn sich schon kleine Schulkinder auf ihren Handys Hardcore-Gangbangs anschauen, wenn in der Werbung auch Elektrogeräte und die ÖBB möglichst geil und sexy sein müssen, dann braucht man nicht der Generalvikar von Basel zu sein [„braucht man nicht“ zu sein oder „darf man nicht sein“?], um sich die Frage zu erlauben, ob es in diesem System der grassierenden nackten Dummheit irgendwo eine Stop-Taste gibt oder alles zwangsläufig immer freizügiger, ordinärer und pornographischer werden muß [Noch einmal: Diese Fragen wurden von der Kirche bereits vor langer Zeit gestellt. Aber damals schien die Kirche die einzige Institution mit genug Phantasie gewesen zu sein, um ernsthaft den Anfängen entgegenarbeiten zu wollen. Jetzt ist’s passiert. Und wie kommen wir das wieder raus...?].

    Moralische Instanzen, die autoritär Tabus festlegen, existieren, anders als im Iran oder in Saudi-Arabien, in der westlichen Welt des 21. Jahrhunderts nicht mehr. Die Kirche mag das bedauern. Für freie Menschen ist es ein Fortschritt. So wie auch Laszivität bei allem ärgerlichen Nervpotenzial eindeutig weniger Seelenschaden anrichtet als die rigide Unterdrückung der Sexualität. Eine freie Gesellschaft kann auch ohne ein zentrales Über-Ich ein Wertesystem errichten, Toleranzgrenzen einziehen und sogar Gesetze gegen Pornographie beschließen. Davor muß sie sich aber erst klar werden, was sie will. Da einen Konsens zu finden, ist mühsam [Das ist gedruckte Luft und finstere Irreführung. Da ist zuerst einmal wieder der fiese alte Trick: Es wird suggeriert, daß die Kirche will, was die Muslime schon haben: Steinigung, Peitschenhiebe und Kontrolle über unsere Körper und Gedanken. Schwachsinn! Wie der „Fortschritt“ für „freie“ Menschen ausschaut, hat der Autor ja selbst im vorigen Abschnitt beschrieben. Da er selbst mit diesen Phänomenen nicht glücklich zu sein scheint, stellt sich die Frage, ob es sich vielleicht gar nicht um einen Fortschritt handelt, oder ob die Menschen nicht so frei sind, wie man es gerne seit Jahrhunderten verkündet. Haben sie sich wirklich nur aus der vermeintlichen Sklaverei unter dem bösen, herrschsüchtigen Klerus in die neue Sklaverei von Sex und Porno und nabelfreien Shirts geflüchtet? Scheinbar nicht, denn Laszivität zerstört je die Seelen dann doch nicht so sehr, wie rigide Unterdrückung der Sexualität. Hier rate ich gerne noch einmal zum Betrachten der kirchlichen Sexualmoral in ihrer Gesamtheit, in ihrem Fortschritt, seit Leo XIII. Da ist nicht so viel mit rigider Unterdrückung. Eher gleicht sie dem Aufruf, der menschlichen Natur und Würde treu zu bleiben und vor allem die Liebe als etwas zu erkennen, was sich nicht nur in Euphemismen wie „Liebe machen“ oder Pauschalentschuldigungen wie „Am wichtigsten ist doch, daß man sich liebt“ niederschlägt. Letztlich landen wir dann im Artikel wieder in der Pluralismus-Falle, wo 80 Millionen Menschen am runden Tisch debattieren, was sie eigentlich wollen und man dann mit einem „Schön, dass wir mal darüber geredet haben“-Gefühl nach Hause geht ohne einen Konsens gefunden zu haben].

    [Folgt der bereits oben zitierte Schlußsatz:] Die Alternative könnte jedoch die völlige pornographische Verrohung und Verblödung sein. Tiefer ist es ja immer noch gegangen.
Also: Irgendwie scheint der Autor ja auch bestimmte Auswüchse der Übersexualisierung zu fürchten. Aber fürchtet er sie mehr, als die drohende Rückkehr der schwarzen Klerikal-Krake, die einen Abgesandten in jedes Schlafzimmer schicken wird?

"There are not 100 people in America that hate the Catholic Church, but millions upon millions who hate "what they think" is the Catholic Church." (Fulton Sheen)

4 comments:

Lumen Cordium said...

Allein schon für diesen Absatz gehört dem Autor die Stelle entzogen:

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Daneben lag jedoch der Hausprediger des Papstes, als er sich am Karfreitag hinter dem Zitat eines jüdischen Freundes versteckte und antiklerikale Angriffe mit dem Antisemitismus verglich. Das ging sogar dem Sprecher des Vatikans zu weit; erdistanzierte sich.
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Das hier von vorne bis hinten alles erstunken und erlogen ist, muss man nicht einmal erläutern, wenn man die Predigt und den Sachverhalt bzw. Papst-Prediger und jüdischer Freund kennt.

Wer im Beruf so frech lügt, sollte eigentlich schon längst in der Reihe vor dem Arbeitsamt stehen! Stattdessen bekommt er wohl eine Gehaltserhöhung.

Der Herr Alipius said...

Ja, danke! Dieses Juwel hatte ich ganz vergessen zu kommentieren!

Josef Bordat said...

Guter Kommentar mit sehr schönen Formulierungen! Was die kath. Sexualmoral angeht, gibt es wohl mit Abstand die meisten Missverständnisse (und das, obgleich es auch bei anderen Kirchen-Themen nicht gerade wenig Klischees, Vorurteile, Halbwahrheiten, Ungenauigkeiten und schlichtes Unwissen gibt – manchmal frage ich mich, wo man das eigentlich kaufen kann, so ein „modernes Kirchenbild“...). Warum ist es so schwer, Sexualität als Dreiklang von Fortpflanzungswille, Beziehungsvertiefung und Lustempfinden zu begreifen? (Da kann man dann sogar auf Th. v. Aquin zurückgehen, wenn man will.) Warum ist es so schwer, in Treue zum Partner zu stehen? Und warum kriegt man jedes Mal eins auf den Deckel, wenn man Treue als Alternative zum Kondom ins Gespräch bringt? Frohen Ostergruß, Ihr Josef Bordat

Anonymous said...

Soso, eine freie Gesellschaft ist in der Lage, für sich selbst zu entscheiden, was sie will? Ich dachte immer, unsere eigene Geschichte hätte uns von der Utopie kuriert: Die Herde läuft immer einem Hirten nach, wenn nicht Jesus, dann einem anderen. Der Artikel trägt für mich von Anfang bis Ende eine Widersprüchlichkeit in sich, die der Autor nicht aufzulösen schafft. Was dessen Hilflosigkeit umso deutlicher macht.