Als gesetzt betrachte ich sämtliche realen Vergehen der Kirche (sowohl ihrer Priester als auch ihrer Prälaten) und alle berechtigten Vorwürfe, die man ihr in den vergangenen Monaten machte. Das soll hier nicht Thema sein. Stattdessen drängt es mich, noch einmal die angebliche Realitätsferne des Vatikan dem Verständnis von Realität gewisser Berichterstatter gegenüberzustellen.
Irgendwann zur Zeit des Zweiten Vatikanischen Konzils, spätestens aber mit der Veröffentlichung von Humanae Vitae begann ein Prozeß des Sich-Selbständig-Machens von Kirchenkritik und Pop-Theologie, der in dem ungeschriebenen Gesetz mündete, daß Kirchenklatschen irgendwie immer geht (ein paar Zeilen und Hintergründe dazu hier in einem älteren Eintrag).
Selbst von politisch schwer linkslastigen und extrem säkularisierten Bekannten konnte ich schon in den frühen 90ern nicht selten Sätze hören wie: „Es stimmt wohl, daß Anti-Katholizismus das letzte noch akzeptierte Vorurteil ist.“
Viel früher aber noch begann ein Prozeß, den man nur als atemberaubende Entmachtung der Katholischen Kirche bezeichnen kann. Sicher, hier mag zuerst die materielle Seite auffallen. Wer z.B. einen französischen Bischof oder einen in Rom residieren Kardinal oder auch einen Papst des Jahres 1775 mit seinen zeitgenössischen Amtsbrüdern vergleicht, dem kommen nicht unbedingt die Tränen ob der elenden Not, in welcher Prälaten heutzutage dahinvegetieren. Aber der krasse Unterschied in den äußeren Zeichen, in den Privilegien, in der Lebensführung, im Selbstverständnis, in der besessenen und tatsächlich ausgeübten Macht, in Ansehen und Stand – all dies spricht Bände auch über die Art, wie man Begriffe wie “Kirche“, “Papst“, “Vatikan“ oder “Katholizismus“ heute versteht und kommuniziert und über die tatsächliche Bindung eines ehemals katholischen, dann immerhin noch christlichen Kontinents an seine erste und vorrangige Heilsinstitution.
Mit dem Untergang der weltlichen Macht, mit dem Verlust materieller Güter, mit der fortschreitenden Verdrängung der katholischen Religion aus dem tagtäglichen Geschehen und den individuellen Lebensläufen (“Von der Wiege bis zur Bahre...“) zu einem oft eher verschämt als aufrecht wahrgenommenen, optionalen Angebot unter Vielen hat sich in Europa ein Wandel vollzogen, der von den meisten Menschen begrüßt, wenn nicht bejubelt wird.
Ich schimpfe zwar oft wie ein Rohrspatz über die Auswüchse dessen, was einst als Aufklärung begann und heute in breiten Teilen unserer Gesellschaft in dumpfem, uninformiertem Wiederkäuen alter und dazu oft falscher Vorurteile endete, aber im Grunde meines Herzens bin ich tatsächlich froh und dankbar, daß die Menschen heute die Freiheit haben, sich über bestimmte Sachverhalte ein korrektes Bild zu machen (wenn dies natürlich auch leider viel zu selten geschieht), kritische Fragen zu stellen und auch mal z.B. einem Regierungschef eine Cremetorte ins Gesicht zu drücken, ohne daß sie danach gevierteilt werden.
Daher nehme ich auch den Artikel, der auf der ersten Seite der neuen Ausgabe der ZEIT zu finden ist, cum grano salis. Wenn die Überschrift schon “Die Kirche teilt aus“ lautet, weiß man eh, was einen erwartet. Dennoch gab es in dem nicht besonders originellen (bzw streckenweise unverschämten) Zweispalter immerhin drei Passagen, die mich haben aufhorchen lassen:
- “Weltkirche gegen Weltpresse – zwei Sorten Weltgewissen prallen aufeinander, ein religiöses und ein säkulares. Beide Seiten appellieren an denselben Juror: eine Weltöffentlichkeit...“
Zu Beginn des Artikels wird festgestellt, daß der Mißbrauchsskandal mittlerweile die gesamte Kirche erfaßt hat und auch ihr Zentrum erschüttert. Das ist auch so eine Geschichte. Seit Ewigkeiten werden jährlich weltweit Hunderttausende (oder besser Millionen) von Kindern mißbraucht. In Familien, in Sportvereinen, in Schulen, in Urlaubscamps, in Nachbars Werkzeugschuppen, in der Kirche und werweißnochwo. Millionen von Opfern jährlich, die gedemütigt, verstört, niedergeschmettert und leidend durchs Leben stapfen. Wenn dann der SPIEGEL von Fällen aus der Katholischen Kirche berichtet und dazu sein tolltes Ekel-Titelblatt präsentiert, dann wird auf einmal überall so getan, als hätte man da ein neues, besonders abscheuliches Phänomen aufgetan, welches sich “Kindesmißbrauch“ nennt. Aber das ist’s natürlich nicht. Denn auch beim SPIEGEL wusste man und weiß man, daß Kindesmißbrauch nichts Neues ist. Das eigentliche Phänomen ist natürlich “Kindesmißbrauch in der Kirche“. Das macht die Geschichte interessant und druckenswert. Wenn man dann noch munter illustre Namen probeweise in den Mix werfen kann, weil an irgendeinem der Dreck schon hängenbleiben wird, dann ist das zwar hübsch “säkular“ aber wo genau das “Weltgewissen“ sich befindet, bleibt offen. Anhand der Zahlen ist für mich eines zumindest nicht auszuschließen: Der Vorwurf, sich nicht vorrangig für die Opfer zu interessieren, muß man sich auch seitens der Medien immer dort gefallen lassen, wo man erst durch das Hineinrühren der – zugegebenermaßen – würzigen Zutat “Kirche“ den Eintopf des Kindesmißbrauchs etwas pfiffiger und verkaufzahlenfördernder zu gestalten wußte. Ginge es um die Opfer, hätte man auch schon früher und allgemeiner den Stein ins Rollen bringen können.
Der Dritte interessante Punkt bringt mich wieder zurück zum Anfang, zum Unterschied zwischen gestern und heute. Da ist irgendwann im Artikel von “Drinnen“ (Wir) und “Draußen“ (Die) der Kirche zu lesen und es wird vor einer Art Gettoisierung zumindest des Vatikan wenn nicht der ganzen Kirche gewarnt. Das ist jetzt nur als Anregung gedacht, aber mich würde schon mal interessieren, warum einerseits zumindest latent eine Tendenz existiert, wild um sich bombende Islamisten oder beim kleinsten Anlaß Botschaften abfackelnde Muslime mit “Die Armen hatten ja so unter den Kreuzfahrern zu leiden und fühlen sich irgendwie gedemütigt“ zu entschuldigen, wenn man bei der Kirche gleich „teilt aus“ sagt, nachdem sie genug eingesteckt und jetzt halt erstmal den Rand voll hat. Wenn ich mir die Präsenz und auch den Einfluß der Kirche in früheren Zeiten anschaue (bei aller gebotenen Vorsicht gegenüber diesen Dingen, versteht sich. Aber für einen Katholiken ist es einfach schön, das Gefühl zu haben, in einer katholischen Gesellschaft zu leben und Teil einer Kirche zu sein, die auch, naja... ein Wörtchen mitzureden hat und große Teile des Volkes eint); wenn ich an die machtvollen, erhebenden und schönen Demonstrationen des katholischen Glaubens denke, die ich leider nur von Schwarz/Weiß- oder Sepia-Photographien kenne; wenn ich von alten Mitbrüdern höre, wie selbstverständlich einst das Nebeneinander von Hirten und Schäfchen trotz klarer Gliederung – ja, manchmal sogar Abgrenzung – verlief, dann empfinde ich zwar nicht gleich “Demütigung“, aber ich kann jeden Gläubigen, jeden Priester, jeden Bischof und sogar jeden Papst verstehen, der manchmal für eine kurze Zeit die Schnauze gestrichen voll hat und mit dem “Draußen“ für ein paar Tage erstmal nichts zu tun haben will. Die Demütigung allerdings beginnt, sich ins Bild zu schleichen, wenn ich kopfschütelnd mit ansehen muß, wie der Mensch - als Folge der Entmachtung der Kirche und auch Gottes - fröhlich zwitschernd sich Schritt für Schritt von seiner Natur lossagen will. Die Demütigung beginnt, konkrete Formen anzunehmen, wenn ich an Deix-Karikaturen, Fernseh-„Sketche“, Titanic-Titelblätter und all den anderen Schund denke, der uns als Triumph der Meinungs- und/oder Pressefreiheit untergeschoben wird und nichts weiter ist als gröbste und dummdreisteste Verhöhnung der Dinge, die Katholiken von Natur aus und vernunftbegabten Menschen guten Willens aus respektgründen heilig sind. All dies, um billigste Lacher abzusahnen und als Krönung dann noch denjenigen, die sich beschweren, die “Aufklärungsfeind!“ oder “Fundamentalist!“-Karte zuzuspielen. Das ganze ist so abgeschmackt und auch fadenscheinig, dass ich mich wirklich immer wieder wundere, wo bei uns im Land eigentlich die Anständigen sind oder diejenigen, die wenigstens für Zwofuffzich graue Zellen haben. Aber, klar: Wo “Aufklärung“ bedeutet, im Fernsehsessel, vor dem Computer oder mit den neuesten “Nachrichten und Kommentaren“ in der Hand ein Dasein als Sklave der Vierten Macht zu führen, da ist das Hinterfragen ihrer Vorgehensweise natürlich eine Aktion gegen die Aufklärung (oder eben das, was dort darunter verstanden wird).
Die Tatsache, daß innerhalb der Kirche Kinder geschändet wurden, ist eklig genug. Durch das permanente Erhöhen des Drucks (oft nur aufgrund einer vagen Vermutung), durch Dauerberieselung mit Kommentaren, die nicht unbedingt immer Perlen der Weisheit sind und durch Kritiken, die sich eben nicht – wie im Artikel behauptet – der Häme enthalten, befindet sich die Kirche unter Dauerbeschuß, muß ständig echte Skandale von wilden (um nicht zu sagen böswilligen) Gerüchten trennen und verliert so die nötige Zeit zur Vorbereitung einer entsprechenden Antwort. Die Medien reißen sonst stets ihre Scherzchen, wie lahmarschig die Kirche ist. Jetzt werfen sie im Minutentakt die neuesten Gerüchte richtung Rom und spielen die Empörten, wenn der Papst nicht einen Augenschlag später in Sack und Asche über den Peterplatz schlurft. Durch diese Bigotterie wird ein gläubiger Katholik, sei er Laie oder Priester oder Prälat, nicht unbedingt dazu eingeladen, sich von dem “Draußen“ bestätigt zu fühlen und ein wenig mehr Vertrauen oder Offenheit zu zeigen. Hier entsteht erneut das ungute Gefühl, daß es nicht vorrangig um die Opfer geht, sondern daß es eine nicht kleine Gruppe von feder- und worterprobten Leuten gibt, die die Skandale gerne zum Anlaß nehmen, die im Laufe der letzten über zweihundert Jahre porös geschossene Kirche endgültig als echtes und wahres Weltgewissen auszuradieren. Anlässe gibt’s genug. Ich kann nicht oft genug wiederholen, daß man streng und genau darauf schauen und sich fragen muß, aus welcher Ecke die ätzende Häme oder die unsaubere Berichterstattung richtung Kirche und Papst kommt, wer in dieser Ecke aus welchem Grund wie viel Macht will und wer am meisten zu verlieren hat, wenn die Lehre der Kirche ernst genommen wird.
Hmm... Das war jetzt aber ein etwas längeres Posting... Naja, da ich ja erst ab Mitte nächster Woche wieder regelmäßig blogge, mache ich’s halt mit Masse gut [** zwinker **].
26 comments:
Chapeau Fr. A! ;)
Danke. Seit einigen Wochen erwische ich mich dabei, jeden hier gelesenen Beitrag unterschreiben zu wollen...
Der Zeit würde ich gar nichts glauben. Ihre Berichterstattung im Fall Murphy ist ein einziger Skandal und aufschlussreich, in welche Tiefen journalistische Arbeit mittlerweile abgesunken ist.
Aber das geht am Beitrag ja etwas vorbei. Für diesen ebenfalls: Chapeau!
Klasse!
Wunderbar!
Danke!
Hut ab! (chapeau!);-)
Tja, warum wird der Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche in den Medien wohl so hochgekocht?
Auf der einen Seite trägt die katholische Kirche eine dermaßen realitätsfremde, rigide und menschenfeindliche Sexualmoral vor sich her, das den Missbrauch moralisch viel verwerflicher macht, als er eh schon ist.
Das gilt natürlich auch für das homosexuelle, unkeusche und sadistisch gewaltsame Bodenpersonal.
Auf der anderen Seite wurden diese Fälle systematisch vertuscht, Opfer verklagt, bedroht oder eingeschüchtert (siehe z.B. Mixa), Schweigen mit Geld erkauft und die strafrechtliche Relevanz vor der weltlichen Justiz verheimlicht.
Und genau DAS ist der eigentliche Skandal!
Da hilft auch kein relativieren oder das Erfinden einer obskuren Verschwörung gegen die RKK.
Dazu gibt es mittlerweile zu viele Fälle. Sei es die USA, sei es Irland, Deutschland, Österreich oder Australien.
Es werden wahrscheinlich noch einige folgen.
@ anonymous: Danke für den differenzierten und mutigen Kommentar zum Thema: "Bitte demonstrieren Sie in wenigen Sätzen, wie die seit Jahrzehnten andauernde und seit Jahren intensiver werdende negative Berichterstattung eines großen Teils der Medien über die Katholische Kirche ihnen dabei half, offen zu werden für Behauptungen, Vorurteile, Verallgemeinerungen und Halbwahrheiten bis Lügen."
Eines jedoch stimmt: Da dort, wo die Kirche ist, Menschen sind, und da dort, wo Menschen sind, Kindesmißbrauch ist, kann man wohl davon ausgehen, daß die Kirche überall auf der Welt sich mit den gleichen Vorwürfen konfrontiert sehen wird. Somit stimmt der Satz "Es werden wahrscheinich noch einige folgen". Es ist aber gleichzeitig ein Satz, der auf gar wunderschöne Art die ganze Heuchelei von Leuten Ihres Schlages offenlegt. Denn man muß schon ganz besonders bigottisch sein, wenn man im Falle von Kindesmißbrauch den Betroffenen mimt, seine pseudo-informierten Haßtiraden über die Kirche loswird, sich dann genüßlich zurücklehnt und auf die nächsten Skandale aus der Kirche wartet, anstatt wirklich aufzustehen und etwas gegen den alltäglichen Mißbrauch, der überall stattfindet zu unternehmen. Aber, wie schon im Artikel vermutet: Die Opfer interessieren hier halt auch nicht, Euch Heulbojen geht's um den Kirchenhaß und die Selbstgerechtigkeit.
@Anonymous 12.11 PM:
"Auf der einen Seite trägt die katholische Kirche eine dermaßen realitätsfremde, rigide und menschenfeindliche Sexualmoral vor sich her, das den Missbrauch moralisch viel verwerflicher macht, als er eh schon ist.":
Völlig richtig, die mediale Aussenwirkung wäre sicherlich vorteilhafter gewesen, wenn man, wie beispielsweise in der Odenwald-Laborschule, pädophile Handlungen von vorneherein als etwas Fortschrittliches und Rechtschaffendes herausgestellt hätte. Man erntet auf Kinsey-Basis einfach mehr Verständnis für den ein oder anderen Ausrutscher auf dem Weg zur utopischen Glückseligkeit als mit dem Dekalog oder einem Mühlstein-Wort.
Jeder einzelne Fall oder dessen Vertuschung trifft die Kirche ins Mark.
Aber: Weder gab es in der katholischen Kirche eine koordinierte "systematische Vertuschung" dieser Fälle noch eine Häufigkeitsverteilung, die die anderer säkularer Gruppierungen oder Religionen übertreffen würde.
Nach einer bundesweiten amerikanischen Christian-Science-Monitor-Studie liegen Katholiken sogar weit abgeschlagen hinter Vätern, Lehrern, Trainern und Protestanten.
Natürlich gibt es eine Kampagne, was den sonst.
P.S.:
Bin kein Kirchenmitglied, in der DDR aufgewachsen und habe kürzlich über Umwege mehr über die "Theologie des Leibes" erfahren dürfen, von der ich eine Menge halte, auch, wenn mir der Glaube an Gott nicht mitgegeben wurde.
@Alipius
Ich frage mich gerade, an welcher Stelle meiner Kurzzusammenfassung Behauptungen, Vorurteile, Verallgemeinerungen und Halbwahrheiten bis Lügen vorkommen?
Für all meine Aussagen gibt es Belege. Angefangen vom katholischen Katechismus, über die AIDS-Problematik in Afrika, bis hin zu den Aussagen von Würdenträgern der RKK und den offiziellen weltlichen Untersuchungen.
Ad hominem Attacken sind hier fehl am platz.
Ich heuchle nicht und ich hasse auch nicht die RKK. Ich verurteile Sie für das was sie macht oder unterlässt. Das gilt für alle Institutionen, Ideologien und Religionen, insbesondere wenn sie sich auf höhere Mächte berufen und in ihrem Wahn Menschen für ihre Ideen leiden oder sogar sterben müssen.
Interessant ist übrigens, das Sie die Missbrauchsfälle in Ihrem eigenen Stall immer noch relativieren und sich auch noch selber als Opfer einer Hasskampagne darstellen.
Natürlich dürfen Sie sich gegen Verallgemeinerungen wehren und die Fälle als Einzelfälle deklarieren.
Nur irgendwann ist diese Grenze überschritten und man kann dann IMHO sehr wohl von einem systemischen Problem sprechen.
Gegen den alltäglichen Missbrauch kann ich persönlich außer einer Mitgliedschaft in einem Verein zum Schutz der Kinder nicht viel machen, da ich keinen Beruf ausübe der im sozialen Bereich angesiedelt ist.
Auch hier fällt ihr Argumentum ad hominem ins Leere.
Damit Sie meine Kommentare zuordnen können, werde ich sie mit meinem schönen biblischen Vornamen kennzeichnen.
Gruß,
Michael
Michael:
Daß in der Kirche Scheiße gebaut wurde, bestreitet niemand. Aber die total überdrehte Verzerrung, die ja schon am Beginn der Berichterstattungen stand (SPIEGEL-Titel, "Papst soll zu Odenwald Stellung beziehen", etc) muß man als Katholik nicht unwidersprochen hinnehmen. Natürlich gibt es eine Kampagne gegen die Kirche. Das soll aber nichts relativieren. Denn dort, wo die Kirche Schuld trägt, gibt es nichts zu relativieren. Ich wünschte nur, die Medien würden das auch erkennen und nicht den falschen Schluß ziehen: "Dort, wo die Kirche IMMER NOCH keine Schuld trägt, muß man aber langsam mal stärker bohren und forschen. Kann doch nicht sein, daß da nichts ist..."
Wie bereits der Vor-Kommentator schrieb sind die "systematischen Vertuschungen" bestenfalls eine Behauptung, die "realitätsfremde, rigide und menschenfeindliche Sexualmoral" ist zugleich Verallgemeinerung, Vorurteil und Halbwahrheit (um nicht zu sagen Lüge), es sei denn, sie gehören zu den Leuten, die der Meinung sind (Ihr Stichwort: AIDS-Problematik in Afrika), das HI-Virus wird durch das Nicthvorhandensein eines Gummihäutchens übertragen und nicht durch Geschlechtsverkehr. Abstinenz im IMMER ein sicherer Weg, Infektion zu vermeiden. Bei Kondomen kann es immer wieder auch mal schadhafte geben oder es kann zu ungeschicktem Gebrauch kommen.
"Ad hominem Attacken sind hier fehl am platz." Ach ja? Das schien im ersten Kommentar aber noch anders zu sein: "Das gilt natürlich auch für das homosexuelle, unkeusche und sadistisch gewaltsame Bodenpersonal."
Was "Wahn" und "dafür sterben müssen" betrifft, so hatte die Kirche mit solchen Ideen schon abgeschlossen (nämlich nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil), als die Gesellschaft grade erst begann, durch zwanghafte Übersexualisierung Millionen von Menschen in teilweise tödlich endende Geschlechtskrankheiten heineinzuideologisieren und weitere Millionen im Mutterleib getöteter Kinder billigend in Kauf zu nehmen.
Sie denken automatisch, weil Bischof Mixa angeklagt wurde und er sich gegen solche Vorwürfe rechtlich zu wehren versucht, er bedrohe Opfer oder schüchtere sie ein. Sie sagen auch, daß Sie "verurteilen". Ich persönich warte in solchen Fällen lieber, bis ich Klarheit habe. Auch die Presse täte gut daran, so zu handeln. Es sei denn, daß die Unschuldsvermutung für alle gilt, nur nicht für Priester.
Wenn Sie wirklich so ein Hecht sind, der Tapfer gegen Institutionen angeht, die Dinge tun oder unterlassen, dann reden Sie sich bitte nicht damit raus, daß Sie keinen Beruf haben, der im sozialen Bereich angesiedelt ist. Wer Zeit und Energie hat zu mosern, hat auch Zeit und Energie anzupacken.
Und mit Sätzen wie "Für alle meine Aussagen gibt es Belege" wäre ich sehr vorsichtig: Der Katechismus sagt was zu tun und zu lassen ist; er ist kein interpretierbares Schriftstück, welches man für seine Zwecke in den Zeugenstand rufen kann. Was AIDS in Afrika betrifft, dazu habe ich mich bereits geäußert. Aussagen einzelner Würdenträger oder "offizielle weltiche Untersuchungen" (was auch immer das sein soll), kann man schwerlich als Belege bezeichnen.
@Anonymous 12.47 AM:
Was soll jetzt dieser Strohmann mit der Odenwald-Laborschule und Kinsey?
Ich rede hier über die sexualmoralische Bankrotterklärung vieler Vertreter der katholischen Kirche. Über die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit und diese immer wieder vorgebrachten verharmlosenden Relativierungen.
Zu dem Vorwurf der systematischen Vertuschung braucht man sich nur die Untersuchungen in den USA und Irland anzuschauen.
Wer das leugnet, ist schlicht ein Ignorant!
Hier sind Infos und Links zu Quellen und Nachweisen:
http://de.wikipedia.org/wiki/Ryan-Bericht
http://de.wikipedia.org/wiki/Sexueller_Missbrauch_in_der_r%C3%B6misch-katholischen_Kirche
Gruß
Michael
@Alipius
Das mit der Wahrnehmung einer Kampagne gegen die RKK ist von der betroffen Seite ist natürlich verständlich. "Getroffene Hunde bellen." ;-)
Das es zum Teil sehr undifferenzierte Dinge in der medialen Aufbereitung gibt, will ich auch nicht verhehlen und ich gebe Ihnen Recht, wenn Sie Pauschalurteile ablehnen.
Aber die Kirchenvertreter haben anscheinend seit den aufgedeckten Fällen in 2002 in den USA nichts dazugelernt und nach dem Motto "Möge dieser Kelch an mir vorübergehen" gehandelt. Hier wieder der Vorwurf von mir der Diskrepanz zwischen Reden und Handeln.
Ich kann mich noch gut an eine frühe TV-Diskussion zum Thema mit Bischof Jaschke erinnern, wo er die ganze Redezeit relativiert, abgewiegelt und verharmlost hat.
Zum Thema Vertuschungen und Systematik habe ich in der Antwort zu Anonymous Wikipedia-Links mit den entsprechenden Nachweisen und Quellen gepostet.
Wer wirklich an dem Ausmaß der Problematik interessiert ist, sollte die Berichte der verschiedenen Untersuchungskommissionen lesen.
Zum Thema AIDS in Afrika:
Um mit den Worten einer waschechten blaublütigen Katholikin
zu antworten: "Der Neger schnackselt gern.". Das heisst Abstinenz zu fordern wäre nicht nur in diesem Kulturkreis gleichbedeutend mit einem Aufruf zur Nahrungsverweigerung.
Kondome schützen bei richtiger Anwendung (Das hat man in 5 Minuten gelernt) sehr effektiv vor AIDS und Geschlechtskrankheiten.
Der Pearl-Index liegt zwischen 2 und 12.
Wenn man diese Fakten kennt und dennoch Sexualität (jetzt kommt der Katechismus) als reinen Reproduktionsmechanismus und nur innerhalb einer Ehe zwischen Mann und Frau, Verhütung als nutzlos und Teufelswerk begreift und propagiert, macht nicht nur in meinen Augen einen gewaltigen Fehler.
Wem in der Mission wirklich an dem Wohlergehen der Menschen liegt klärt auf.
"Das gilt natürlich auch für das homosexuelle, unkeusche und sadistisch gewaltsame Bodenpersonal."
Diese Aussage sollte kein ad hominen sein, sondern die stärkere moralische Verwerflichkeit herausstellen in Bezug von Anspruch und Realität.
D.h. wer seine Moral vor sich her trägt und sie von anderen einfordert darf sich über Häme und Spott nicht wundern, wenn er seinen eigenen Idealen nicht gerecht wird.
Das meinte ich in Bezug auf die Fälle von Priestern mit homosexuellen oder heterosexuellen Verhältnissen und prügelnden und sadistischen Ordensleuten.
http://www.focus.de/panorama/welt/missbrauchsskandal/ettal-misshandlungen-verfolgen-ermittler-in-den-schlaf_aid_497288.html
Gruß
Michael
@Alipius:
Gestatten Sie, daß ich diesen Ihren ausgezeichneten Artikel in meinen Blog (natürlich unter Angabe der Quelle) hineinstelle, oder bevorzugen Sie, daß ich nur einen Link zu Ihrem Artikel anbringe (oder verbitten Sie sich beides — würde ich, mit Bedauern zwar, natürlich auch akzeptieren).
Noch ein Hinweis (falls Sie dieses Forum noch nicht kennen sollten): auf "Manfreds politischen Korrektheiten" finden sich mehrere m.E. ausgezeichnete Beiträge zum derzeitigen Medienhype, der letzte beschäftigt sich mit der — wie üblich hinterfotzigen — Spiegel-"Berichterstattung" zu Ostern:
Und noch einmal der Spiegel
@ Le Penseur: Gerne dürfen Sie meinen Artikel in Ihren Blog stellen. Grundsätzlich gilt, daß "am römsten"-Material Freiwild ist, vorausgesetzt, es gibt eine Quellenangabe.
Danke auch für den Hinweis auf das Forum, welches mir bisher nicht bekannt war. Der von Ihnen verlinkte Artikel ist ja schon mal vielversprechend!
@ Michael:
Okay, wir scheinen uns in einigen Punkten anzunähern. Ich will aber vorweg gleich klären, daß ein Übermaß an Sex für mich nich allein deswegen schon okay ist, weil's die Leute nun mal gerne tun. Die Gefahren sind bekannt und wenn Kondome "sehr effektiv" vor AIDS schützen, so schützt Abstinenz absolut.
Was das ad hominem betrifft, so hatte ich Sie falsch verstanden. Ich hielt es im Affekt für eine General-Breitseite. Dennoch ist auch hier vorsicht geboten: Nicht jeder Priester, der heute des Mißbrauchs bezichtigt wird ist homosexuell, unkeusch oder sadistisch gewaltsam. Manchen ist einfach ein paar mal die Hand ausgerutscht. Das ist nicht fein, aber das war in der Zeit in der es geschah, auch ein Verbrechen. Klar, wo brutal geprügelt wurde, gehört der Kerl auch weg, keine Frage. Aber es wird da heute einfach zu wenig differenziert.
Das beklage ich auch in der Situation, so wie sie sich momentan bietet: Nochmals: Ich bestreite nicht, daß es Kindesmißbrauch in der Kirche gegeben hat (wär ja auch schön blöd). Ich will die Fälle von Kindesmißbrauch auch nicht herunterspielen oder relativieren. Aber das bedeutet ja nicht, daß ich auf der anderen Seite nicht eine gehörige Portion Empörung empfinden kann gegenüber Berichterstattungen, die schlicht und einfach über das gebotene Maß hinausgehen und hechelnd hinter jedem sich scheinbar bietenden Verdachtsmoment hinterhereilen um noch mehr aus der Sache herauszukitzeln. Die Medien sind mit dieser Taktik in den letzten Wochen einige Male auf die Nase gefallen und lassen trotzdem nicht locker. Das finde ich schnöde.
Bei genauerer Betrachtung der Situation finde ich übrigens, daß von den betroffenen Bischöfen (also von denen, die tatsächlich von Mißbrauchsfällen wußten) die Mehrheit zumindest auf Verlängerung gespielt, wenn nicht gar vertuscht hat. Ich nehme also erstmal meinen Einwand gegen das Wort "systematisch" unter Vorbehalt zurück.
@Alipius:
Artikel steht chon drin.
@Alipius & Michael:
Kurz schwankte ich, ob ich jetzt nicht ein Statement zu "AIDS & Afrika" abgeben sollte, aber ich denke, ich laß' es lieber. sonst mögen mich beide nicht mehr so wirklich (wenngleich aus unterschiedlichen Gründen). Wen's interessiert, der kann ja hier (der eigentliche Artikel findet sich auf meinem ruhendgestellten »Oriens ex alto«-Blog) nachsehen. Womit ich allerdings in diesem Thread keine Diskussion off topic starten möchte. Mein Interesse an einer 174. Diskussion über dieses THema ist endenwollend ...
@Alipius
Danke für ihre einlenkenden und klärenden Worte und Gedanken.
Trotz unserer wahrscheinlich weit auseinander klaffenden Weltanschauungen ist ein fruchtbarer Dialog möglich und das freut mich.
Gruß,
Michael
@Michael/Anonymus:
Die Artikel auf der deutschen Wikipedia sind allerdings ein wenig, sagen wir mal, pauschal.
Was wirklich vorgefallen ist, wird schon etwas klarer, wenn man z.B. Commission to Inquire into Child Abuse in der englischen Wikipedia liest.
Irgendwie fast frivol finde ich den auf Wiki zitierten Hinweis im Spiegel, daß 1914 bis 2000 35.000 Kinder in Irland in besagten Anstalten "mißbraucht" (im Sinne von Schlägen bis sexuellem Mißbrauch) wurden, angesichts der Tatsache, daß die 1945 Österreich nach offizieller Darstellung "befreienden" Truppen der Roten Armee in den ersten 2-3 Monaten (also, wenn man die Symbolik der Zahl will, in 86 Tagen) etwa die dreifache Anzahl von (ost-)österreichischen Frauen und Mädchen mißbraucht, und zwar ganz eindeutig sexuell mißbraucht, hatten. Eine Kommission, die sich allerdings mit diesem wenig ruhmreichen Vorgang beschäftigt hätte, gibt es nicht. Und Schadenersatzforderungen jeglicher Art haben die Aliierten im Staatsvertrag ebenfalls ausgeschlossen. Aber das nur ganz nebenbei gesagt ...
Irland ist sicher insoweit ein Sonderfall, als dort bis vor kurzem praktisch das gesamte Erziehungswesen in kirchlicher Hand lag. Damit ist ein sinnvoller Vergleich mit nichtkirchlichen Bereichen praktisch unmöglich. Wer jedoch in anderen Staaten, wo dies eben nicht der Fall ist, nachprüft, wird feststellen, daß die Mißbrauchsraten in kirchlichen Erziehungsanstalten keineswegs über denen der nicht-kirchlichen Erziehungsanstalten liegt — im Gegenteil!
Womit allerdings der gegenwärtigen Medienorgel eigentlich die Berechtigung fehlt. Denn eine Kritik an "Heuchelei" und "Scheinmoral" wäre ja nur dann angebracht, wenn die kirchlichen Einrichtungen diesbezüglich schlechter (oder wenigstens: gleich schlecht) abschnitten, wie die nicht-kirchlichen. Nur ist das eben nicht der Fall.
Klar ist natürlich: eine sachlich richtige Spiegel-Headline à la:
"Kirchliche Schulen erziehen zwar besser als andere, könnten aber noch besser sein"
hätte irgendwie nicht den nötigen Biß, die Auflage zu erhöhen.
Und deshalb wird es auch in Hinkunft eher Covers mit Prälaten, die sich ans Gemächt greifen lassen, geben — sex sells ...
Hallo,
ist irgendwo in den Medien oder in der Blogozese schon einmal intensiver darauf eingegangen worden, wie stark sich die Einschätzung des sexuellen Mißbrauchs von Kindern in den letzten 60 Jahren gewandelt hat?
Die Debatte um den Mißbrauchsskandal in den vergangenen Wochen hat zwar immer wieder erwähnt, daß in den letzten 30 Jahren die Sensiblität für das Thema "sexueller Mißbrauch" stark gestiegen ist. Sie hat sich aber davor gedrückt, danach zu fragen, wie man eigentlich davor die Problematik bewertet hat.
Ich meine jetzt nur bedingt irgendwelche Auswüchse bei den Grünen oder 68er-Szene, sondern die generelle Bewertung der Problematik.
Wir wissen heute: Sexueller Mißbrauch hat bei den Opfern schwer seelische Leiden zur Folge, an denen sie Jahrzehnte leiden können.
Doch genau dieses Wissen ist gar nicht so alt. Lange Zeit galt wohl, daß psychische Krankheiten entweder frühkindlich, genetisch oder durch Verletzungen des Hirns bedingt sind. Was seelische Traumata betrifft, meinte man, daß diese - vor allem von Kindern - schnell und problemlos verarbeitet würden.
Dieser sorglose Umgang mit Traumatisierungen zeigte sich nicht nur bei Opfern sexuellen Mißbrauchs, sondern generell: Die psychischen Folgen von KZ-Haft, von Kriegserlebnissen oder von Flucht und Vertreibung wurden ebenso völlig ignoriert. Holocaust-Überlebenden wurde erst allmählich in den 1960er Jahren geglaubt, daß die KZ-Erlebnisse langfristige psychische Folgen haben. Bei Soldaten wurde dies mit dem Vietnam-Krieg bewußt. Und erst 1980 wurde das Posttraumatische Belastungssyndrom in der Psychatrie als Diagnose allgemein anerkannt.
In der Zeit davor galt nicht nur die Annahme, daß Traumata leicht verarbeitet würden. Der Übervatar der modernen Psychologie, Sigmund Freud, lieferte noch dazu mit dem Ödipuskomlex ein Erklärungsmodell, das Bericht über sexuellen Mißbrauch als Fantasienprodukte bzw. Projektionen abtat.
Der Rest ist bekannt. Erst Ende der 1970er und im Laufe der 1980er Jahre wurde überhaupt erkannt, daß sexueller Mißbrauch nicht nur ein moralisches Problem ist, sondern auch die Opfer massiv schädigt.
Wenn ich die Entwicklung richtig verstanden habe, dann konnten die Verantwortlichen der 1950er und 1960er Jahre aufgrund des damaligen Standes der Wissenschaft davon ausgehen, daß
a) sexueller Mißbrauch den Opfern nicht besonders schadet,
b) Berichte von Kindern über sexuellen Mißbrauch tendenziell unglaubwürdig sind.
Ich weiß, daß bei den Berichten über "Mißhandlungen" bzw. Prügel in der Schule vielfach das Echo ausgelöst haben, daß dies damals halt so üblich war. Aber ist bereits versucht worden, die Problematik des sexuellen Mißbrauchs ebenfalls vor dem Hintergrund zeitgenössischen Denkens und Wissens zu sehen?
Eine Antwort auf diese Frage ist möglicherweise nicht nur für mich interessant. Ich glaube, dass dies helfen könnte, über billige Pauschalurteile "da ging es nur um das Ansehen der Kirche" hinaus zu einem tieferen und besseren Verständnis zu kommen.
@ Le Penseur: Ich habe den verlinkten Artikel zum Thema AIDS geleseun und finde irgendwie nicht, daß ich Sie jetzt nicht mehr mag. Scheint mir solide und nachvollziehbar, was da steht.
@ Michael: Fein! Gruß zurück!
@ Anonymous: Ich bin da auch nur bruchstückhaft informiert und weiß eigentlich nur aus den USA, daß es dort wohl eine Phase in den 70/80ern gab, in der manche Therapeuten die Folgeschäden für Opfer zumindest unterschätzten und auch Pädophile als "geheilt" entließen.
@Deutero-Anonymus (wenn ich Anonymus "Michael" zum "Proto-Anonymus" dieses Threads ernennen darf ;-)
Irgendwie erscheint mir diese heutige Tendenz, alles und jedes als "traumatisierend" und "psychologischer Betreuung" bedürftig anzusehen, bloß ein Vorwand für Wehleidigkeit und Unverantwortlichkeit zu sein! Kaum fährt irgendwo ein Flugzeug beim Landen in die Pamaps (ohne Schwerverletzte, wohlgemerkt!), oder muß notlanden, wird uns schon über Fernsehnachrichten beruihgend mitgeteilt: "Die Betroffenen wurden psychologisch betreut". Schön für sie.
Mir ist nicht bekannt, daß meine Urgroßmutter psychologisch betreut wurde, als ihr einziger Sohn 1917 am Isonzo fiel. Mir ist nicht bekannt, daß mein Vater, im 2. Weltkrieg an der Ostfront, und kurzfristig in russischer Kriegsgefangenschaft, jemals "psychologisch betreut" worden wäre. Oder meine Mutter, die den Bombenkrieg miterlebte, vor den Russen flüchtete und nach ihrer Rückkehr erfuhr, daß ihre beste Freundin, bei einem Bombeneinschlag verletzt, mit ansehen mußte, wie ihre Mutter von russischen Soldaten vergewaltigt, und ihr Vater, der sie davor retten wollte, krankenhausreif geschlagen wurde. Die genannten haben das ohne "psychologische Betreuung", die uns heute inflationär angeboten wird, irgendwie überstanden, obwohl sie in ihren Fällen tatsächlich angebracht gewesen wäre.
Und deshalb glaube ich auch die Geschichte mit den "jahrzehntelangen Folgen" von "Kindesmißbrauch" nur etwas schaumgebremst. Klar: ein vergewaltigtes Kind erleidet ein Trauma. Bei denen, die Watschen bekamen (ich rede nicht von krankenhausreif geprügelt!) glaube ich es schon weniger.
Und ich führe dafür einen plausiblen Grund an: wie sonst hätte die Menschheit in weitaus unlustigeren Zeiten, z.B. als Höhlenmenschen, mit Spießen und Keulen gegen Bären und Wölfe, die sie fressen wollten, psychisch überlebt? So, wie der menschliche Körper erstaunlich robust gebaut ist, so ist es auch die Psyche — wenn man sie nicht verweichlicht. Das ist nun kein Plädoyer für Dresche oder gar Vergewaltigung — nur meine Skepsis gegen die derzeitige Hysterie, mit der diese Dinge aufgeblasen werden, als wären Sie das schrecklichste Ereignis der Menschheitsgeschichte.
Bornemann schreibt in seinem (piis auribus offensivum) "Lexikon der Liebe" zum Stichwort Kindesmißbrauch sinngemäß: je weniger Aufhebens darüber gemacht wird, wenn es vorgefallen ist, desto weniger Folgen hat es auch. Das ist für heutige eine ganz unvorstellbare Äußerung — aber so ganz von der Hand weisen kann ich ihre Plausibilität nicht, wenn ich daran denke, daß wohl die meisten von uns als Kind mit Nachbarkindern "Doktorspiele" veranstaltet haben, die zwar die Eltern entsetzten, aber uns erst durch das mitbekommene Entsetzen der Eltern überhaupt als "Verbotenes" bewußt wurden.
Insofern plädiere ich für "Entsetzen mit Augenmaß" — und weiß genau, daß genau das wohl die am schwierigsten zu verwirklichende Vorgangsweise sein wird. Und zwar schwierig für nahrzu alle:
- die ihre Frustrationen an der Kirche ausleben wollen, werden in ihrem Haß auf alle Schwarzröcke kein augenmaß kennen
- die Sensationen solange suchen, bis sie sie finden, erst recht nicht
- aber auch die Gläubigen, die jetzt den Spagat zwischen postulierter Heiligkeit der Kirche und offenkundiger Unheiligkeit mancher ihrer Diener versuchen müssen, werden eher einer "ratz-fatz"-Mentalität zuneigen und die "Unwürdigen" jetzt tendenziell "in den Boden stampfen" wollen ...
Ach, und hier stehe ich nun als alter, nicht kirchen-unfreundlicher Aufklärer und Freigeist, mit einem melancholisch-ironischen Lächeln im Mundwinkel, und frage mich: was tun? "Que sais-je?" pflegte mein verehrter Sieur de Montaigne in solchen Fällen zu fragen. womit auch ich diesen "Essay" beschließen möchte ...
@ Le Penseur: Danke! Guter Kommentar! Insbesondere "schaumgebremst" finde ich im Kontext ziemlich klasse!
@ Le Penseur:
Ich kann mich inhaltlich Deinem Kommentar teilweise anschließen. Traumatisierung wird heute inflationäre festgestellt, während in früheren Zeiten Traumatisierungen von Menschen, die es sicherlich waren, nicht anerkannt wurden.
Mir scheint aber genau diese Verschiebung auch eine der Schlüssel zu sein, warum in 1950er und 1960er Jahren so und nicht anders gehandelt wurde. Weil man eben die Problematik nicht so beurteilte, wie heute, bzw. sich auf Psychologen stützen konnten, die Kindesmißbrauch und andere Traumata für harmlos erklärten.
Und dieser Wandel in der Einschätzung von Mißbrauch und Traumata geht in der gegenwärtigen Debatte völlig unter. Man hat einfach nicht gewußt, daß dies Kinder so extrem traumatisiert.
Deutero-Anonymus
@Deutero-Anonymus:
Traumatisierung wird heute inflationär festgestellt, während in früheren Zeiten Traumatisierungen von Menschen, die es sicherlich waren, nicht anerkannt wurden.
[...] Man hat einfach nicht gewußt, daß dies Kinder so extrem traumatisiert.
Sehe ich juxta modo ebenso. Wir dürften bloß in der Einschätzung differieren, wie sehr die derzeitige Meinung der Psychologen zu diesem Thema zutreffend ist.
Sie scheinen dies eher zu bejahen, wogegen ich der Meinung bin, daß es sich dabei eher um gequirlte Sch...aumschlägerei handelt.
Ich selbst bin kein Psychologe (Gott sei Dank!), sondern Wirtschaftsjurist mit der starken Neigung, Dinge auf Plausibilität "abzuklopfen" (wer je einen Bilanzbericht analysieren muß, wird verstehen, wie man zu dieser "Berufskrankheit" kommt!) — und da vermeine ich des öfteren in der Psychologie (und vielem anderem, was derzeit von den Meinungsmachern als unbezweifelbare Wahrheiten uns präsentiert werden, vom Klimawandel angefangen, über AIDS, die Gefahren des Passivrauchens, die ausschließlich kulturell bedingte Unterschiedlichkeit der Geschlechter, die tieferen Ursachen des 2. Weltkriegs, die Sinnhaftigkeit staatlicher Wirtschaftspolitik, bis hin eben zur Schädlichkeit von Beziehungen zwischen Erwachsenen und Minderjährigen) Hohlstellen zu vernehmen. Kann sein, daß ich mich täusche (will ich nicht ausschließen), aber viele Male habe ich Diskussionspartner schon gehörig ins Schwitzen gebracht, wenn sie ihre Position nicht einfach verkünden, sondern auch begründen mußten. Was ihnen regelmäßig eher nicht gelang ...
Zum Thema: die Verlogenheit, mit der heute einerseits 12-jährigen die Pille verschrieben wird und 8-jährige Kondomanlegen in der Schule lernen, aber andererseits ein 16-jähriger, der von einer Freundin ein einverständliches (!) Nacktphoto mit der Handykamera machte, und dieses später einem Bekannten sendet, von Staatsanwalt wegen "Kinderpornographie" angeklagt wird — das ist schon bemerkenswert.
Wenn einge Gruppe 14-jähriger sich mit Rudelb*msen vergnügt, geht das schon völlig in Ordnung, aber wenn ein Vorgesetzter einer jungen Mitarbeiterin im extraknappen T-Shirt zuruft: "Tolle Kurven!" bekommt er ein Strafverfahren wegen "sexueller Belästigung" ...
Derlei Hirnlosigkeiten verdanken wir einer feministischen PC-Ideologie, die jede natürliche Äußerung sexueller Anziehung verteufelt, und nur verquaste, "gender-korrekte" Sexualbeziehungen zulassen will.
Irgendwie bin ich froh, vor dieser heutigen Zeit meine Jugend verbracht zu haben.
@ Le Penseur
Jepp, wir sind uns da, was die Doppelmoral im Umgang mit Sexualität betrifft, durchaus einig.
Ob die jetztige Einschätzung von Psychologen zutreffend ist, vermag ich freilich nur schwer zu beurteilen. Noch weniger, ob es sich bei dem, was uns präsentiert wird, um die Einschätzung der Psychologen handelt oder das, was interessierte Kreise oder Medien daraus machen. Auch Psychologie ist eine Wissenschaft und Wissenschaftler sind Berufsskeptiker.
Ich selbst bin Historiker und frage lediglich, wie sich die Bewertung von Sachverhalten geändert hat. Dies ist für die Frage, warum nun die Kirche ein derartiges Imageproblem hat, entscheidend.
Was die Plausibilität der Aussagen betrifft, scheint mir einiges dafür zu sprechen, dass Traumatisierungen früher ein unterschätztes Problem waren. Wir können davon ausgehen, dass der Erste und Zweite Weltkrieg eine erhebliche Anzahl von Menschen traumatisiert hat, die anschließend nicht behandelt wurde. Das hat Folgen. Ich kenne aus eigener Erfahrung und aus der Erfahrung anderer genügend Kriegsteilnehmer, die bis heute immer wieder vom Krieg erzählen, die sogar noch am Totenbett davon reden. Die Einschätzung, dies alles sei aufgebauscht, vermag ich daher nicht ganz zu teilen. Vielleicht verstehe ich Dich da aber auch falsch.
Aber es geht ja noch weiter: Diese Menschen haben dannnach dem Krieg Familien gegründet oder kamen in Familien zurück. Und ein-zwei Generationen später kommt dann der Aufstand gegen die Familie, eine tiefes Mißtrauen gegen die Elterngeneration, eine extrem niedrige Geburtenrate. Wie viele dieser "Aufständischen" sind wohl von traumatisierten Vätern bzw. Eltern erzogen worden? Welches Mißtrauen wurde da bewußt oder unbewußt vermittelt? Ist es ein Zufall, dass ausgerechnet die Verlierstaaten des Zweiten Weltkriegs die niedrigsten Geburtenraten aufweisen?
Selbstverständlich ist der Mensch ein robustes Wesen. Aber Verletzungen hinterlassen Narben, am Körper und in der Seele, die sichtbar bleiben. Nur dass man die körperlichen Narben sieht, die seelischen nur erahnen kann.
Beste Grüße
Deutero-Anonymus
@Deutero-Anonymus:
In vielem kann ich Ihnen zustimmen. Was die Frage derniedrigen Geburtenraten betrifft: die sind m.W. nicht nur in Deutschland bzw. Österreich und Italien so niedrig, sondern in Spanien und im ehemaligen Ostblock ebenso (teilweise noch niedriger).
Der Grund ist wohl weniger die Traumatisierung durch Fehlerziehung kriegstraumatisierter Vorfahren, sondern eher die Gemengelage aus gezielter Familienzerstörung und gewollter ("Sozial"-)Staatsallmacht.
Mit einem Wort: die Erbsünden des Kollektivismus und Etatismus. Manchmal klebt zwar das Etikett "liberal" drauf, aber das hat mit Liberalismus etwa soviel zu tun wie "Kampfmoral" mit "Moral" ...
Solange in Europa nicht eine staatsskeptische Distanz zu verordnetem und behütetem "Glück" entsteht, sehe ich auch wenig Chance, daß die Geburtenziffern steigen. Warum auch? Die Pension zahlt der Staat. Die Versorgung geschieht in Spitälern und Pflegeheimen. Vorher will man Spaß haben ohne Verantwortung und ohne an die Zukunft zu denken (was angesichts eines auf permanentem Schwindel aufgebauten Papiergeldsystems und konfiskatorischer Besteuerung und Umverteilung von real ca. 70-75% des erwirtschafteten Einkommens *) nicht unverständlich ist).
Da mittlerweile die Gruppe der Staatsprofiteure schon fast größer ist als die der Leistungserbringer, ist in einer Demokratie eine Umkehr zu vernünftigem Wirtschaften faktisch ausgeschlossen — jedenfalls vor einem Staatsbankrott. Griechenland zeigt uns gerade, wie's geht ...
Und wenn wir gerade von Traumatisierungen sprechen: über die Traumata eines Staatsbankrotts oder einer Hyperinflation will ich nicht nachdenken. Wenn Otto Normalverbraucher seine Lebensersparnisse in einigen Jahren auf die Dimension eines Kleinwagens schrumpfen sieht. Eine Budget-Zwangshypothek auf sein Wochenendhäuschen eingetragen wird und was dergleichen Nettigkeiten mehr sind.
Manchmal ergreift mich schon ein gewisser Groll gegenüber der Generation 1945-50, die sowohl vom Grauen des Kriegs verschont blieben, dann den Wirtschaftsaufschwung, erst den soliden à la Erhard, dann den auf Pump à la Sozis, genießen konnten, und ab 55 Jahren mit auskömmlicher Frührente das Altenteil genießen, während uns jüngeren (naja, relativ, bin auch schon 50+) in ein paar Jahren die "Hundstrümmerln" bleiben ...
Ach ja, wie heißen die Glückspilze doch geschwind: 68er-Generation, nicht? Die vor AIDS-Hysterie und dank Penicillin unbesorgt rumtun konnte. Die, falls was "passierte", straflos abtreiben konnte. Die aber noch Eltern hatte, wenn sie ihre lästigen Kinder mal zwecks Karriere oder Spaß loswerden wollte. Und die, wie Daniel "Hosenlatz" Cohn-Bendit, sich auch schon mal von Kindergartenkindern verwöhnen ließ.
Und die jetzt fett in den Machtpositionen der Meinungsmache und Politik sitzt und Medienhypes lanciert.
Meine Magensäure steigt ...
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*) die kolportierte "Staatsquote" von ca. 45% rechnet ja nur die Einkommensbesteuerung und die Sozialversicherung, und "vergißt auf Lohnnebenkosten, MWSt und jede Menge Gebühren.
@ Le Penseur
Ja, da sind wir uns einig. Das mit den Verlierstaaten des Zweiten Weltkriegs ist tatsächlich nur ein Aspekt. Richtiger wäre der globale Aspekt gewesen: Kriegszerstörungen, Niederlagen, Diktaturen, Bürgerkriege, Zusammenbruch staatlicher Ordnung.
Beste Grüße
Deutero-Anonymus
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