Tuesday, March 09, 2010

Wo fängt's an, wo hört's auf?

Ich bin Mißbrauchsopfer. Täter war ein Kaplan. Er war in unserer Pfarre tätig und lehrte in der Grundschule Religion. Eines Tages war die Klasse ein wenig zappliger, als sie es normalerweise ohnehin schon war. Der Kaplan klatsche langsam in die Hände, wie er es immer tat, wenn er für Ruhe sorgen wollte. Ich - in der ersten Reihe sitzend - äffte ihn grinsend nach und klatsche ebenfalls in die Hände. Er gab mir mit lockendem Zeigefinger zu verstehen, daß ich doch bitte aufstehen solle. Ich tat dies. Er gab mir eine Ohrfeige der Marke "Ich konnte drei Tage später dann wieder feste Nahrung zu mir nehmen". Ich unterdrückte die Tränen, verbrachte den Rest des Schultages normal, ging nach Hause und erzählte meiner Mutter, was vorgefallen war. Diese erzählte es dem Vater, als er von der Arbeit nach Hause kam. Mein Vater stattete dem Kaplan einen Besuch ab und erklärte ihm - kurz gefaßt: "Wenn nochmal, dann wir Spaß!"

Der Kaplan entschuldigte sich umgehend bei meinem Vater und auch bei mir, als wir uns das nächste Mal sahen. Somit war die Sache gegessen.

Natürlich gilt es, einen Unterschied zu machen zwischem dem gelegentlichen Austeilen von Ohrfeigen und wilder Prügelei. Nach der Episode mit mir hat unser Kaplan zumindest in meiner Schule nie wieder zugelangt. Auch sollte man einen Blick auf die Zeiten werfen. War es zwischen - sagen wir mal - Ende des Zweiten Weltkrieges und 1973/1980 wirklich eine unerhörte, welterschütternde Sache, wenn ein Kind sich von einem Erziehungsberechtigten eine heiße Wange einfing?

Die Geschichten, die ich aus der Verwandtschaft gehört habe, bestätigen, daß mit Kindern während dieser Jahre in der Schule nicht immer zaghaft umgegangen wurde. Das bedeutet nicht, daß es toll ist, kleinen Kindern eine Ohrfeige zu geben. Aber die Tatsache, daß Körperstrafen in Schulen in Deutschland 1973 und in Bayern 1980 abgeschafft wurden, zeigt doch, daß vorher ein gesellschaftlicher Konsens bestand, daß die Hand eben manchmal ausrutscht und im Zweifelsfall die Kleinen "schon wüßten, wofür...".

Daher möchte ich mich entschieden dagegen aussprechen, daß nun im Kielwasser der Fälle von sexuellem Mißbrauch an katholischen Einrichtungen, plötzlich auch ehemalige Erzieher am Pranger stehen, die bis 1973/1980 mal zugelangt haben. Sollte es sich um notorische Prügler handeln, die irreparable Folgeschäden (körperlich oder seelisch) angerichtet haben, werft sie von mir aus der geifernden Meute zu. Aber ein katholischer Priester, der in seiner Rolle als Erzieher tat, was gesellschaftsweit nicht auf Widerstand stieß, von dem laßt doch bitte die Finger.

3 comments:

Anonymous said...

Mit wieviel Schmerzensgeld kann ich eigentlich rechnen, wenn ich erzähle, daß unser damaliger Vikar (leider längst verstorben) mich während der Meßdienerstunde

a) gestreichelt,
b) geohrfeigt oder
c) durch Blicke erniedrigt hat?

Die Auswahl a, b oder c hängt natürlich von den Tarifen ab. Je nach Tarif sind selbstverständlich auch Mehrfachnennungen möglich.

doc_mouse said...

Lieber Alipius, ich seh das genauso wie Du: Erziehung ohne Körperstrafen ist einfach ein Phänomen der jüngeren Vergangenheit- ich selbst habe es noch in den ´80ern erlebt, dass der Volksschul-Lehrkörper (ein recht junger Lehrer -kein WW II Veteran oder ähnliches!) mal zugelangt hat, ohne dass gleich Ermittlungsverfahren die Folge waren- und das in München-Schwabing, einem Hort der 68er-Pädagogik! Da haben sich einfach bei allen die Maßstäbe und die Wahrnehmung verschoben - jetzt alles "post festum" zu kriminalisieren, ist schlicht unfair. Das wäre ungefähr so, als wenn Frauen, die irgendwann mal unter einer (aus heutiger Sicht) diskriminierenden Einstellungspraxis o.ä. gelitten haben, heute vor den Kadi ziehen würden, oder?

Lumen Cordium said...

Ein damaliger Schulkamerad meines Vaters steckte sich einmal frische Blutwürste in die hintere Hosentasche, weil er wusste das er wegen seines schlechten Aufsatzes sicher wieder den Rohrstock zu spüren bekäme. Das war dann auch so, der Lehrer legte ihn übers Knie und drosch ein paar mal mit dem Stock auf die mit Blutwurst gefüllte Gesäß-Tasche. Nachher ging der Junge weinend nach Hause und zeigte die blutige Hose. Keine Anzeige - aber dafür bekam dieser junge Mann nie mehr in seinem Leben Dresche vom Lehrer...

ich könnte zig solcher Geschichten erzählen. Es war in diesen Zeiten einfach üblich, dass man solche Strafen bekommen hat. Meine Mutter bekam den Rohrstock auf die Handfläche. Bei meinem Vater war es sogar noch so, dass die Kinder obendrein noch zu Hause Schläge bekamen, wenn sie erzählten dass der Lehrer sie gezüchtigt hat.

So war es eine sehr lange Zeit.