Immer wieder hört man von "Geschichtsbewußtsein" und "Aus den Fehlern der Vergangenheit lernen". Schön und gut.
Eines der beinahe ehernen Gesetze der Geschichte ist, daß bei Reibereien zwischen einer hoch entwickelten, hedonistischen, egoistischen, materialistischen, dekadenten Gesellschaft und den an ihren Toren stehenden Barbaren Erstere immer den Kürzeren zieht.
Die Liste der Errungenschaften des Westens im kulturellen, politischen und intellektuellen Bereich ist lang. Die Liste der vom Westen verdrehten, verratenen oder herabgesetzten Errungenschaften in diesen Bereichen wird bald eine vergleichbare Länge haben. Und wer soll die praktischen Errungenschaften in Technologie, Industrie oder Medizin stabil halten, wenn die geistigen oder intellektuellen oder spekulativen Errungenschaften am Boden liegen oder ganz ausbleiben?
Physischer Verfall ist die Konsequenz von moralischen Verfall. Juvenals "mens sana in corpore sano" funktioniert natürlich in beide Richtungen. Ein verdrehter, korrumpierter Verstand reißt den Leib mit in den Abgrund.
Europa ist eine herumstolpernde Gigantin geworden, niedergehalten vom Gewicht, welches sie in guter Absicht selbst schuf und an die Massen aushändigte und welches ihr nun in der Form nie wieder abreißender Forderungen, Beschwerden und Mahnereien von Individuen und Organisationen um den Hals gehängt wurde.
Der Tasache, daß Europa heute - wenn sie will - in allem außer im Glauben an sich selbst erfolgreich sein kann, steht eine andere Tatsache gegenüber: Der Islam ist ausschließlich im Glauben an sich selbst erfolgreich. Minderwertigkeitskomplexe und Größenwahn sind beide unschön. Doch wenn sie aufeinandertreffen, wer wird danach noch stehen? Der Zwerg, der glaubt, einen Riesen erledigen zu können, oder der Riese, der nicht einmal wagt sich die Schuhe zuzubinden, weil darauf grade ein Paar seltener Schnee-Eulen nistet oder weil die Schleife für eine im 13. Jahrhundert verfolgte religiöse Splittergruppe ein Symbol der Unterdrückung darstellt?
Leider bedeutet das Lernen aus der Vergangenheit in Europa nichts weiter als Rücksichtnahme auf jede individuell vorbgebrachte Forderung oder Beschwerde, die entweder durch ein plakativ angeheftetes Schreckensbild vergangener Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte, oder durch ein emotional aufgeladenes Rührstückchen Schubkraft erhält. Der sachliche Rückblick auf die Entwicklungskurve von Zivilisationen bleibt aus.
Wie Benedikt XVI in seinem Brief an die Bischöfe schrieb:
"Das eigentliche Problem unserer Geschichtsstunde ist es, daß Gott aus dem Horizont der Menschen verschwindet und daß mit dem Erlöschen des von Gott kommenden Lichts Orientierungslosigkeit in die Menschheit hereinbricht, deren zerstörerische Wirkungen wir immer mehr zu sehen bekommen."
Wir sollten uns nichts vormachen: Es ist der Glaube an den einen Gott, der in unserer Gesellschaft über Jahrhunderte hinweg das vereinende Prinzip darstellte; Kriege, Revolutionen, Reformationen, Familienkrachs und Ladendiebstähle hin oder her. Was auch immer geschah, Europa stellte sich danach wieder auf die Beine, weil sie nicht vergaß, an wen sie ihre Bitten zu richten hatte, wer ihr Kraft gab. Doch jetzt, wo die "Großen" Europas sich seit Jahrzehnten darüber freuen, daß innerhalb ihrer Grenzen die Kriegsmaschinen schweigen, und darüberhinaus ihre Kinder durch einen ein halbes Jahrhundert andauernden Vergnügungs-, Kauf- und Selbstverwirklichungsrausch zu braven, leisen Konsumenten wurden, denen man bei Aufmuckerscheinungen nur das nächste neue Spielzeug (z.B. sexuelle "Befreiung", Gender Mainsteaming) hinwirft, scheint ihnen diese Ruhe so lieb, daß auch das Schweigen in den Kirchen und den Krippen eher wünschenswert als beängstigend erscheint.
Auch Europa ist nicht allmächtig. Wenn sie die Hand abhackt, die sie füttert, wird ihr Leichnam eines Tages selbst zum Fraße.