Sunday, April 19, 2009

Ante Portas

Immer wieder hört man von "Geschichtsbewußtsein" und "Aus den Fehlern der Vergangenheit lernen". Schön und gut.

Eines der beinahe ehernen Gesetze der Geschichte ist, daß bei Reibereien zwischen einer hoch entwickelten, hedonistischen, egoistischen, materialistischen, dekadenten Gesellschaft und den an ihren Toren stehenden Barbaren Erstere immer den Kürzeren zieht.

Die Liste der Errungenschaften des Westens im kulturellen, politischen und intellektuellen Bereich ist lang. Die Liste der vom Westen verdrehten, verratenen oder herabgesetzten Errungenschaften in diesen Bereichen wird bald eine vergleichbare Länge haben. Und wer soll die praktischen Errungenschaften in Technologie, Industrie oder Medizin stabil halten, wenn die geistigen oder intellektuellen oder spekulativen Errungenschaften am Boden liegen oder ganz ausbleiben?

Physischer Verfall ist die Konsequenz von moralischen Verfall. Juvenals "mens sana in corpore sano" funktioniert natürlich in beide Richtungen. Ein verdrehter, korrumpierter Verstand reißt den Leib mit in den Abgrund.

Europa ist eine herumstolpernde Gigantin geworden, niedergehalten vom Gewicht, welches sie in guter Absicht selbst schuf und an die Massen aushändigte und welches ihr nun in der Form nie wieder abreißender Forderungen, Beschwerden und Mahnereien von Individuen und Organisationen um den Hals gehängt wurde.

Der Tasache, daß Europa heute - wenn sie will - in allem außer im Glauben an sich selbst erfolgreich sein kann, steht eine andere Tatsache gegenüber: Der Islam ist ausschließlich im Glauben an sich selbst erfolgreich. Minderwertigkeitskomplexe und Größenwahn sind beide unschön. Doch wenn sie aufeinandertreffen, wer wird danach noch stehen? Der Zwerg, der glaubt, einen Riesen erledigen zu können, oder der Riese, der nicht einmal wagt sich die Schuhe zuzubinden, weil darauf grade ein Paar seltener Schnee-Eulen nistet oder weil die Schleife für eine im 13. Jahrhundert verfolgte religiöse Splittergruppe ein Symbol der Unterdrückung darstellt?

Leider bedeutet das Lernen aus der Vergangenheit in Europa nichts weiter als Rücksichtnahme auf jede individuell vorbgebrachte Forderung oder Beschwerde, die entweder durch ein plakativ angeheftetes Schreckensbild vergangener Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte, oder durch ein emotional aufgeladenes Rührstückchen Schubkraft erhält. Der sachliche Rückblick auf die Entwicklungskurve von Zivilisationen bleibt aus.

Wie Benedikt XVI in seinem Brief an die Bischöfe schrieb:
    "Das eigentliche Problem unserer Geschichtsstunde ist es, daß Gott aus dem Horizont der Menschen verschwindet und daß mit dem Erlöschen des von Gott kommenden Lichts Orientierungslosigkeit in die Menschheit hereinbricht, deren zerstörerische Wirkungen wir immer mehr zu sehen bekommen."
Wir sollten uns nichts vormachen: Es ist der Glaube an den einen Gott, der in unserer Gesellschaft über Jahrhunderte hinweg das vereinende Prinzip darstellte; Kriege, Revolutionen, Reformationen, Familienkrachs und Ladendiebstähle hin oder her. Was auch immer geschah, Europa stellte sich danach wieder auf die Beine, weil sie nicht vergaß, an wen sie ihre Bitten zu richten hatte, wer ihr Kraft gab. Doch jetzt, wo die "Großen" Europas sich seit Jahrzehnten darüber freuen, daß innerhalb ihrer Grenzen die Kriegsmaschinen schweigen, und darüberhinaus ihre Kinder durch einen ein halbes Jahrhundert andauernden Vergnügungs-, Kauf- und Selbstverwirklichungsrausch zu braven, leisen Konsumenten wurden, denen man bei Aufmuckerscheinungen nur das nächste neue Spielzeug (z.B. sexuelle "Befreiung", Gender Mainsteaming) hinwirft, scheint ihnen diese Ruhe so lieb, daß auch das Schweigen in den Kirchen und den Krippen eher wünschenswert als beängstigend erscheint.

Auch Europa ist nicht allmächtig. Wenn sie die Hand abhackt, die sie füttert, wird ihr Leichnam eines Tages selbst zum Fraße.

6 comments:

Anonymous said...

Der schöne Vers von Juvenal wird beinah immer verstümmelt zitiert.
Vollständig heißt er:
orandum est ut sit mens sana in corpore sano.
(Beten muß man, dass heiler Geist wohne in heilem Körper.)
Es wäre doch - nicht nur für Europa, nebenbei - ganz nett, Juvenal mal als Denkanstoß zu begreifen: Jeder einzelne verdankt sich, selbst dann, wenn er unglaublich tüchtig an sich arbeitet. Wenn diese Erkenntnis sich mal durchsetzte (man darf ja wohl hoffen...), könnte das ein von mehr Achtsamkeit, Freundlichkeit und Dankbarkeit geprägtes Miteinander zur Folge haben - aus religiöser wie aus ethischer Sicht gar nicht so verkehrt. :-)

Olifant said...

Der Beitrag ist wirklich grüblerisch ;)
In den 1920er - 30er Jahren waren linke Parteien mehr gefürchtet als rechte Parteien. Das aktuelle gesellschaftliche Befinden ist genau umgekehrt. Die Menschen damals hatten sich getäuscht, hoffen wir, dass in Zukunft vor Rechts und Links gleichermaßen gewarnt und vorgebeugt wird.

Dir noch Frohe Ostern!

Anton said...

Bravo.

Großes Kino.

Ich wünschte, manch einer der sogenannten großen Intellektuellen, die sich in den diversen Publikationen deutschsprachiger Provenienz ausbreiten, hätte Ihre Weitsicht.

Bravo.

Der Herr Alipius said...

Claudia: Stimmt, ich habe den Vers verstümmelt. Mir ging's mehr um die Aussagekraft des allein stehenden Zitates als um Komplettheit. Auch was den Rest betrifft. Ziemlich d'accord.

Olifant: So ganz getäuscht hatten die Menschen in den 20ern und 30ern ja nicht, wenn man sich das kommunistische Rußland oder das radikalsozialistischanarchosyndikalistischtrotzkistischmarxistischsonstwassige Spanien anschaut.

Anton: Danke!

maternus said...

"Mens sana in corpore sano."

Mit diesem Satz, demzufolge ein gesunder Geist bitteschön auch in einem gesunden Körper wohnen solle, haben sie uns damals in der Schule immer getriezt und gequält, wir sollten uns gefälligst anstrengen, wir Jammerlappen, wir seien eine Schande fürs Bildungsideal, was sollten unsere Eltern bloß sagen, wir sollten uns was schämen... so, also ob es ein Ausweis an Minderwertigkeit wäre, nicht zu den gestählten, glatten, muskulösen, gutaussehenden Sportskanonen zu gehören.

Und das war es dann ja auch. Ihnen flogen die Herzen der Mädchen zu, während uns, die wir zumeist etwas linkisch und verkniffenen Blickes auftraten (denn natürlich trugen wir Brille, Kassengestell, es waren die Siebziger!), nur der Spott sicher war. Sie hatten schon früh eine Freundin, natürlich die Klassenschönheit, während wir im Sport immer als Vorletzter oder gar Letzer in die Mannschaften gewählt wurden, begleitet vom mißmutigen Gesichtsausdruck des Mannschaftskapitäns, der uns, während wir uns möglichst unauffällig in die hintere Reihe oder (natürlich) ins Tor zu drücken versuchten, böse anzischte "streng dich gefälligst an!" oder "bau keine Scheiße!", eine Demütigung schon bevor der eigentlichen Demütigung, die ja so sicher war, denn wir waren keineswegs eine gestählte, glatte, muskulöse, gutaussehende Sportskanone, wir trugen eine Brille und mußten aufpassen, daß sie nicht entzwei ging.

Und dann eben dieser Satz. "Mens sana in corpore sano". Wie erniedrigend die Vorstellung, daß anscheinend das Maß der Vollkommenheit auch in geistigen Gefilden das strotzende, das Körperliche zu sein hatte, erst der Athlet brachte den Denker zur Vollkommenheit.

Bis ich dann eines Tage feststellte, daß sie uns in der Schule betrogen hatten, den Satz nie vollständig zitierten, sondern mit Auslassungen (Stilmittel der Ellipse!), die aber den ursprünglichen Sinn ganz und gar entstellten, ja den Satz sogar in völligen Gegensatz zur eigentlichen Aussage verdrehten und verbogen, ich erfuhr, daß Juvenal eigentlich und ursprünglich "Orandum est, ut sit mens sana in corpore sano" geschrieben hatte.
Also ändert sich die Sichtachse, die Betonung, alles. Es ist zu wünschen, daß in einem gesunden Körper auch ein gesunder Geist steckte. Es ist zu wünschen, daß die anabol aufgeblasenen Hohlköpfe sich um die geistige Füllung derselben bemühten. Es ist zu wünschen, daß nicht Oberflächlichkeit und der bloße Schein entschieden.

Das hätten sie mir mal damals in der Obersekunda sagen sollen, dann hätte ich meine Brille auch wenigstens mit einem Jota Selbstbewußtsein getragen.

Der Herr Alipius said...

:-D

Stimmt!

Ich hatte das Glück, daß ich schon recht früh (jedenfalls noch in der Unterstufe des Gymnasiums), den vollen Satz und die entsprechend korrekte Bedeutung von meiner Lateinlehrerin erklärt bekam. Das war dann später blöd, denn als ich in meiner körperlich fitten Phase immer als einer der Ersten ins Basketball- oder Fußballteam gewählt wurde, befürchtete ich, schleichend zu verblöden.