Thursday, November 13, 2008

Kehrvers-Könige

Im Jahre 1986 veröffentlichten It's Immaterial ihr erstes Album "Life's hard and then you die". Das klingt natürlich gar nicht optimistisch, zumal auch das Artwork des Covers (ein zerfurchtes Photo eines Clown-Gesichts) nichts Gutes verspricht. Und tatsächlich ist "melancholisch" durchaus eines der Attribute, welches man dem Album anheften darf. Allerdings ist da noch viel mehr. So viel mehr, daß diese CD für mich nicht nur eine der eigenständigsten Werke des etwas gepflegteren 80er-Pops darstellt, sondern auch eine der Scheiben ist, die ich einpackte, ließe man mich mit nur... sagen wir mal... 20 Platten (Hey, weniger geht nun echt nicht) auf eine einsame Insel.

John Campbell und Jarvis Whitehead, zwei Jungs aus Liverpool, sind das offizielle Duo hinter dem Werk. Aber sie werden unterstützt von einer Menge Gaststars (unter anderem sind die Christians dabei). Die Instrumente, Melodien und Texte schwirren so ziemlich über die gesamte Pop-Landkarte. Klar, die Synthies und der Drumcomputer dürfen in den 80ern nirgendwo fehlen. Aber es gibt auch Akustikgitarren, Mundharmonika, Trompete, diverse Percussion und immer wieder ultrastarken Harmoniegesang.

Los geht es mit dem Erkennungstune der Band. Driving away from Home war ihr größter und einziger Hit und genoß damals auch in Deutschland grade genug Rotation, daß viele von Euch sicherlich "Klar! Kenn ich!" rufen werden, wenn sie meiner dringenden Empfehlung folgen, sich die Scheibe bei Amazon zu holen und das Ding dann zum ersten Mal in den CD-Player einlegen. Zu einer generös geschraddelten Akustikklampfe, monotoner Bassline und schlichten Bassdrums klemmt Campbell sich hinter das Steuer und erzählt einen Road Movie, der sich auf der britischen M62 abspielt. Im Chorus schleicht sich eine Harmonika rein und eine zarte Damenstimme unterstützt vom Beifahrersitz aus die Atmosphäre. Happy Talk heißt das zweite Stück des Albums. Es handelt von den großen und kleinen Problemen eines Salesman. Musikalisch liegt es irgendwo zwischen perkussiver 80er Akustronik mit sparsamen Gitarren-Tupfern und breitgewalztem Keyboard-Drama im Chorus. Der Text hat einen netten, bittersüß humorigen Unterton. Wenn nicht schon in den ersten beiden Songs, dann wird spätestens im dritten Stück - Rope - deutlich, was die geheime Zutat in beinahe allen It's Immaterial-Liedern ist: Ein bärenstarker Refrain. Los geht's mit Violingequietsche und stumpfem 6/8tel-Gedrumme aus der Dose. Dazu gesellen sich Pianoklänge und bevor man sich versieht, swingt schon der Chorus los. So schlicht, so unspektakulär, so unvergeßlich. Ganz wunderbar. The better Idea ist angeblich einer der ersten Popsongs, die sich mit der AIDS-Thematik befassten. Wenn man den Text unter diesem Aspekt betrachtet, bekommen Zeilen wie "I was down on the dock the day the talking turned" natürlich eine ganz eigene Note. Musikalisch geht es entsprechend dezent zu. Woodstick-Clicks, Noise-Cymbals und Persiltrommel-Bassdrum vom Computer mit zarten Piano-Klängen und ein wenig Bass-Gezupfe bilden den Untergrund für die Mischung aus gesprochenem und gesungenem Text. Melancholisch in der Tat, aber sehr schön komponiert. Space legt einen kleinen Klafter drauf. Der Drumcomputer hält streng und monoton sein Umph-klick-tah-klick ein. Darüber ein xylophoniger Synthie-Loop, gefiedelte Keyboard-Schleifchen und wieder Campbells Sprechgesang, vorgetragen, als läse er aus einem Buch. Es folgt wieder so ein eingängiger Chorus, getragen durch einen breiten Keyboard-Teppich. Dann heißt's "Anschnallen!", denn die Stücke sechs bis acht sind der Höhepunkt einer insgesamt starken Platte. The sweet Life startet mit einem Trompeten-Intro, den schon bekannten Mumpf-Drums und einer spärlichen Saitenarbeit im Hintergrund. Aus der Strophe biegt der Song dann in einen Chorus ein, der wieder so schlicht gestrickt, so einleuchtend und doch so absolut toll ist. Keine Ahnung, wie die das machen. Aber sie haben wohl selbst gespürt, daß da was drinsteckt, denn ebenfalls zu den Chorus-Harmonien gibt es später noch eine kleine Trompeten-Melodie, die sich so gnadenlos einfrißt, daß man sie einmal hört und nie wieder vergißt. Weiter geht's mit Festival Time, ein Stück, welches seinem Namen alle Ehre macht. Spielzeuggitarren und gesampeltes Gemumpfe zu Beginn, dann ein undurchsichtig instrumentierter erster kurzer Vers, der mit dem Text ("... the young men did fight with drunken sailors in the night.") plötzlich anschwillt zu einem Chorus, in dem hysterisches Frauen "Yah-Yah" mit Campbells eher sachlichem Gesang eine wunderbare Verbindung eingeht. Und dann kommt noch eins drauf, denn die Frauenstimme wird nach einem kurzen Intermezzo mit polternden Marsch-Drums dann als Instrument eingesetzt und liefert eine schrill gejauchzte Melodie, die so unter die Haut geht, daß die Knochen vibrieren. Im Laufe des sich ständig ein wenig wilder ausbreitenden Liedes wird diese Melodie sowohl zu Strophen als auch Chorus-Harmonien wiederholt und paßt einfach immer wieder ganz genau hinein. Ein ganz starker, ganz anderer Song. Ed's funky Diner mach von Anfang an keine Gefangenen. Es poltert gleich mit Drums und "Hey-Hey" los und in der Strophe wird gleich schon mal mit einem Harmonie-Gesang auf Größeres vorbereitet: Im Chorus lässt sich die Mitwirkung der Christians endgültig nicht mehr leugnen. So sauber, so geschmeidig, so wunderbar schieben sich die Stimmen zu flottem Sechsachtel-Tanzbeat übereinander, daß ich persönlich beim ersten Hören wirklich vor Vergnügen gequietscht habe. Außerdem hat der Song auch noch eine oberamtliche Hookline. Ganz großes Kino. Dann tritt auf Hang on sleepy Town plötzlich wieder Ruhe ein. Piano- und Gitarren- und Fiedel-Klänge lullen einen so richtig schön ein. Auch der Chorus ist ganz friedlich, lieblich und zart. Und war man bei diesem Lied noch schläfrig, so dürfen auf Lullaby dann offiziell die Augen zufallen. Nicht etwa, weil man den Song getrost verschlafen darf, sondern weil er mit seinem monotonen Bass, der in der Tat an ein Schlaflied erinnernden Gesangsmelodie, den mit leichtem Hall versetzten Instrumenten und dem simplen Synthie-Getropfe im Chorus wirklich zu sanftem Schlummer einlädt. Textlich geht's zwar wieder etwas melancholisch zu, aber Albträume kriegt man davon keine, also alles im grünen Bereich. Auf der Vinyl-Version des Albums gingen nach Lullaby dann auch schlüssig die Lichter aus. Die CD hat noch drei Bonus-Tracks. Einmal Washing the Air eine Single B-Seite. Es ist eine hübsche Tanz-Nummer mit Sax-Tupfern, schrägen Saitenklängen, flötenartigen Synthie-Melodien und wildem Instrumental-Klimbim. Dazu wird halt textlich die Luft gewaschen. Bonus-Track zwei ist eine langgezogene Version des Tanz- und Chorus-Krachers Ed's funky Diner und trägt den Untertitel The Keinholz Caper. Das ist ein Bonus-Mix, wie man ihn sich gefallen lässt. Fingerschnipsen und in den Vordergrund gemischtes, tiefes "Uh-huh" mit einer schraddligen Klampfe geben dem Stück plötzlich eine ganz andere Note. Der Chorus wird immer wieder mal instrumental gespielt und erst hier entdeckt man, wie brutal die synthetische Hi-Hat mit der Bass-Drum zusammen swingt. Im Gegensatz zum Original wird hier einfach die Geschichte von der Entdeckung des Diners durch Campbell erzählt, welches gleich zu seiner Stammbar wurde. Nun fragen im Chorus die Christians ganz bös, was Campbell denn macht, wenn die Kneipe eines Tage geschlossen wird und er antwortet eben mit seiner kleinen Liebeserklärung an die Bar, bevor es am Schluß dann heißt "Call me a cab, I gotta be going!". Schick. Es folgt ein zweiter Remix: Driving away from Home (Dead Man's Curve Mix). Zu Anlassertönen und mit Effektgeräten hinterlegtem Schlagwerk entfalten sich gesampelte Frauenstimmen, bevor das Lied dann mit extraviel Harmonika aus der Garage kommt. Sägende Gitarrenklänge deuten an, daß die Straße auf dieser Version des Songs etwas holpriger ist. Mit dezent britischem Augenzwinkern heißt es dann auch gleich "You know, I was convinced that we could make it. I mean, just look at it. After all, it's only dead man's curve." oder auch "Jack WHO? Jack Cadillac? And you said: 'Jack Kerouac'. And I said: 'Uh-huh! What's he look like? I might have met him on the road?'" Tä-Täh!

Mit Mucke wie dieser widerlegt der Titel des Albums sich natürlich selbst. Wenn man Glück genug hatte, diese Perle zu entdecken, ist zumindest das Pop-Konsumenten Leben alles andere als schwierig. Ich weiß, ich juble hier ständig alle möglichen Scheiben hoch, aber heute ist meine Empfehlung wirklich oberernst: Wenn ihr diese Platte nicht kennt, dann langt zu. Bedenkt: Ich habe versucht, im Internet eine schlechte Kritik dieses Werkes zu finden. Es gelang mir nicht. Daß könnte natürlich bedeuten, daß die Refrain-Regenten von It's Immaterial einfach der kleinste gemeinsame Nenner sind. Ich sage: Die Jungs haben ein überzeugendes, zeitloses, kreatives und eigenständiges Album geschaffen, welches in keiner Sammlung fehlen darf. Es gab 1990 noch ein zweites Album mit dem Titel Song. Auch diese Scheibe wurde (zurecht) von den Kritikern über den grünen Klee gelobt, war aber kommerziell ein Total-Flop. Danach hat man von It's Immaterial bis heute leider nichts mehr gehört.

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