Vaticarsten hat mich (über twitter *grins*) auf einen ZEIT-Artikel aufmerksam gemacht. Dieser setzt sich kritisch mit dem Phänomen "twitter" auseinander und verlinkt seinerseits auf eine ZEIT-Glosse, die dies bereits auch schon tat und somit den Stein irgendwie ins Rollen brachte.
Die Jungs und Mädels bei der ZEIT sitzen tief im Schlammassel, denn die erste Kritik hat offenbar eine Welle der Gegenkritik beleidigter Twitterer hervorgerufen, die nun wiederum zum Artikel führt der sagt "Man wird doch wohl noch kritisieren dürfen".
Klar, darf man. Und die in der Glosse vorgebrachte Kritik stimmt inhaltlich größtenteils: Tweets sind 140 Zeichen lange Kurzinformationen, die auf twitter abgestellt und dort von den Mitgliedern gelesen werden, von denen man abonniert wurde, sprich, die einem folgen (followers). Daß 140 Zeichen nicht aureichen, um eine Würdigung von "Krieg und Frieden" zu verfassen, die "intentionale Inexistenz eines Objektes" bei Brentano zu durchleuchten oder die letzte Angelus-Predigt des Heiligen Vaters zu umreißen, leuchtet so ziemlich jedem ein. Da twitter neben seiner Begrenztheit auch noch für jeden Menschen mit Internetanschluß nicht nur erreichbar sondern auch benutzbar ist, stapeln sich dort die Belanglosigkeiten natürlich bis unter die Decke. Und das, so die ZEIT, nervt. Ja, schön, und?
Ich habe Keipengespräche verfolgt, die langweilig und banal waren, habe Zeitungsartikel, ja ganze Bücher gelsen, nach deren Konsum ich nur einen schalen Geschmack im Mund und ein gewisse Anzahl verschwendeter Stunden meines Lebens zu verbuchen hatte. Das nervt auch. Jetzt zeigt mir aber mal den Autor oder den Kneipengast, die dazu in der Lage sind, in 140 Zeichen halbwegs Interessantes zu kommunizieren. Die gibt's? Schau an! Ist es dann so schwer zu glauben, daß solche Leute auch auf twitter zu finden sind? Ich bin doch da nicht dabei, weil ich nichts besseres tu tun habe, als Dinge zu lesen, für die ich mich nicht interessiere oder Dinge von mir zu geben, in der Hoffnung, daß sie jemanden interessieren. Klar ist Aufmerksamkeit offenbar die "Währung" von twitter. Wenn einem 35 Leute folgen, ist man arm dran. Wenn einem 800.000 Leute folgen, ist man ein Star. Dabei geht's doch gar nicht darum, wie viele Leute einem folgen, sondern wie vielen Leuten man selbst folgt. Ich habe momentan etwas weniger als 20 in der Liste. Selbst, wenn sich nun das ganze Internet dazu entscheiden sollte, mir auf twitter folgen zu wollen, so bliebe die Liste der Leute, denen ich folge, kurz. Denn nur so behalte ich ja den Überblick. Was habe ich von der "Folgst du mir, folg ich dir"-Philosophie, wenn ich alles lese, was sich nicht rechtzeitig auf einen Baum retten kann und dann nach 5 Minuten unter gähn-induzierter Maulsperre leide?
Nee, ich bin bei twitter, weil es eine angenehme und gute Möglichkeit ist, mit Internet-Kumpels/-Freunden, an denen mir was liegt, schnell und dreckig Infos zu tauschen, ohne dabei auf den ganz großen Stil und die Erich-Fried-Preisverdächtigkeit achten zu müssen.
Für mich lesen sich beide ZEIT-Kritiken wieder ein bißchen so wie die Angst der "Intellektuellen" vor der Erstürmung ihrer Elfenbeitürme durch einen grenz-prolligen Web-Mob, der nach Schleifung der erhabenen Festungen der akkurat durchdachten und wohlformulierten Deutungshoheit wagt, auf schmutzstarrend gossiger Ebene Informationen auszutauschen, die ihm wichtig erscheinen, während die gestürzten Wort-Aristokraten - gestern noch Herrscher, heute schon nutzlos - heimlich und bei Nacht emigrieren. Aber selbst wenn's so käme: Wollt Ihr, liebe Journalisten, nur über die Folgen jammern (also die Stimme erheben, wenn's zu spät ist), oder wollt Ihr auch mal an der Wurzel ansetzen und fragen, warum die Generation der rüpelhaften Web-Deppen überhaupt erst enstehen konnte?
Wollt Ihr eintreten für eine Gesellschaft - und ich schlage das jetzt mal so spontan vor - in der Kinder heranwachsen, die nicht nur richtig schreiben und ihr eigenes Hirn benutzen können, sondern auch wissen, was Verantwortung und Repekt sind? Weil man ihnen früh beigebracht hat, daß man im Leben einiges haben kann, es sich aber selbst und mit fairen Mittel holen muß? Weil sie erkennen wie Papa und Mama einander treu bleiben, auch wenn's mal Sand im Getriebe gibt? Weil sie lernen, daß die Basis einer Ehe nicht der aufgrund von sexueller Kompatibilität für einen gewissen Zeitraum anhaltende "Kick" sondern eine lebenslange Verpflichtung dem Anderen und dem Nachwuchs gegenüber ist? Weil sie Eltern haben, die ihnen Dampf machen, wenn sie in der Schule lustlos und erfolglos abschnarchen? Weil sie erleben, wie Papi brav morgens das Haus verläßt und zur Arbeit geht, auch wenn er manchmal keinen Bock dazu hat? Weil sie sehen, wie Mami nicht nur einen Haushalt schmeißt, sondern sich ganztägig mit Liebe und Hingabe 2-4 Kindern widmet, auch wenn ihr dabei manchmal die Haare zu Berge stehen? Weil sie von Kindesbeinen an mit einer Lehre vertraut gemacht werden, die ihnen zeigt, daß es Bedeutenderes gibt auf Erden als die eigene Wichtigkeit? Nur zu!
Aber ich befürchte, daß es darum nicht geht. Wenn ich mir die Stand-up-Comedy Sprüche der Glosse durchlese ("All das [Getwitter] ist ungefähr so spannend, wie einer frisch gestrichenen Raufasertapete beim Trocknen zuzuschauen" oder "Selbst wenn in Hintertupfingen jemand einen Furz lassen würde, wäre man auf Twitter live dabei") dann liest sich das für mich eher nach einem Autor, dem es besonders auf zwei Dinge ankommt: Aufmerksamkeit und Follower.
3 days ago
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