Was mag wohl in den Köpfen der Leute vorgegangen sein, die im Mittelalter am Bau einer der gigantischen, wunderschönen, gotischen Kathedralen in Frankreich beteiligt waren?
Von der Grundsteinlegung bis zur Weihe vergingen nicht selten Generationen. Da wußte jeder der anfangs Beteiligten, daß er die Vollendung nicht mehr erleben kann. Der Architekt, der Steinmetz, der Schnitzer, der Glaser, ja, selbst das Domkapitel und der hochmächtige Herr Bischof wußten, daß sie nur etwas anstoßen, daß sie in der Tat nur den "Grundstein legen".
Warum dann überhaupt anfangen?
Weil es nicht um den Architekten, nicht um den Steinmetz, nicht um den Glaser, ja, nicht einmal um das Domkapitel und den hochmächtigen Herrn Bischof ging. Es ging um Gott. Es ging um Glaube, Anbetung, Verehrung, Geheimnis. Es ging um eine anhaltende Form, um eine - aus menschlicher Sicht - halbwegs würdige Antwort auf den unwiderstehlichsten und drängendsten aller Rufe. Es ging um ein Guckloch ins himmlische Jerusalem, um die Messerspitze der Andeutung einer Ahnung, was uns einst erwartet. Es ging um die größtmögliche, die manchmnal unmögliche gemeinsame Anstrengung im Hinblick auf das gemeinsame Ziel. Wie in einer guten Ehe durfte man sich auch beim Bau einer Kathedrale nicht durch die läppischen Nebengeräusche menschlicher Unzulänglichkeiten vom Weg abbringen lassen, sondern mußte, Einer mit dem Anderen, den Blick auf Gott gerichtet haben, um, Einer mit dem Anderen, nicht zu vergessen, warum man im Schweiße seines Angesichts (die Arbeiter) oder unter ständig sich ausdünnendem Nervenkostüm (Architekten und Bischöfe) sich auf das Unternehmen eingelassen hat.
Revolutionäre können nicht warten. Sie müssen die Früchte ihres Wirkens zu Lebzeiten ernten. Sie schauen nicht in die Ewigkeit und auf Gott, sondern in das Hier und Jetzt und auf den Menschen und nicht zuletzt auf sich selbst. Nicht, daß die Revolutionen die Menschheit nicht vorwärts gebracht haben. Aber sie konzentrieren sich - wie Häresien in der katholischen Kirche - stets nur auf einige Realitäten und blenden andere aus. Denn die "Anderen" sind die, die dazu tendieren könnten, nicht mit am selben Strang zu ziehen. Daher die Hektik und - nicht selten - Brutalität mit der Revolutionen auf das Bestehende eindreschen, wovon grade Frankreich natürlich ein Lied singen kann, welches Strophen von 1789 bis 1905 hat und welches seinen Kehrvers in die Fundamente unzähliger der Kathedralen dieses Landes gemeißelt hat.
Manchmal wurde nur ein wenig an den Statuen und den Bischofsgräbern herumgehackt. Manchmal wurden nur die Sakristeien ausgeräumt. Manchmal kam's auch äger. Die Kathedrale von Arras, gerühmt als einer der schönsten gotischen Bauten Frankreichs, wurde gänzlich abgerissen. Der Beschluß, die Kathedrale von Chartes zu sprengen, war schon gefällt. Die Sprengung fand dann doch nicht statt. Grund: Zuviel Geröll in den Straßen. Revolutionäre haben nichts gegen üble oder unangenehme Früchte, solange sie nicht zu ihren Lebzeiten zu ernten sind. Wenigstens hat das einem der beeindruckendsten Gotteshäuser vorläufig erstmal das Leben gerettet.
Wir können warten und dennoch tätig sein. Den Lohn gibt's ohnehin erst viel, viel später...
3 days ago
1 comment:
Das zu lesen fand ich sehr erbaulich :)
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