Monday, February 05, 2007

Straßenbahn-Ethik

Eine alte physikalische Weisheit besagt, daß zwei Körper nicht gleichzeitig denselben Raum einnehmen können. Da der Innenraum einer Straßenbahn im Vergleich zu einem Bürgersteig begrenzt ist, macht es daher Sinn, daß an einer Haltestelle die Fahrgäste erst aussteigen, bevor die Wartenden einsteigen. Um diesen Prozess wiederum so geschmeidig wie möglich zu gestalten, bietet es sich an, daß (Abb. 1) die Wartenden einen möglichst breiten Weg freihalten oder wenigstens (Abb. 2), sich so positionieren, daß am Ende eines eventuell sich bildenden Trichters noch ein Ausweg besteht. So kannte ich es bisher aus Ländern wie Deutschland oder Österreich.

Willkommen in Italien: Hier sieht es so aus (Abb. 3), daß, wenn die Türen der Bahn sich geöffnet haben, man sich als aussteigender Fahrgast einer nervös mit den Hufen scharrenden Meute gegenübersieht, die nicht nur eng geschlossen im Halbkreis die Türe belagert, sondern sich auch noch langsam vorwärts schiebt. Das kreiert dann auf der Türschwelle eine hübsche Moshpit, in der nur eines zählt: Für die Einsteigenden der Sitzplatz und für die Aussteigenden das nackte Leben. Hab's heute morgen (auf dem Weg zum Ethik-Examen, das ich nicht glorreich aber immerhin bestanden habe) wieder erleben dürfen.

Apropos Ethik: Ich weiß, es ist ein weiter Bogen, aber liegen diese Art von Verhalten und das Töten eines Sicherheitsbeamten während eines Fußballspiels nicht zumindest auf derselben Route? Jede individuelle Person besitzt einen absoluten Wert. Dieser wird ihr nicht von anderen Personen verliehen, sondern von Gott. Der Mensch ist das Subjekt, in dem der simple, absolute Wert der unendlichen Gutheit Gottes sich in Wissen und Liebe wiederfindet. Der Mensch ist Träger dieser Güte und hat somit Anteil an der Güte Gottes. Wenn der Mensch nun aber nur jemand ist, der mir beim Einsteigen der Straßenbahn im Weg steht und nicht jemand, dem gegenüber ich aufgrund seines Wertes auf eine gewisse Art verpflichtet bin (in unserem Fall: Weg freimachen), dann kann der Mensch ja im nächsten Moment auch jemand sein, der nicht etwa aufgrund seines Alters einen Anspruch auf meinen Sitzplatz hat, sondern nur jemand, der annimmt, mir wegen seiner Tatterigkeit meinen Sitzplatz wegnehmen zu dürfen. Und dann kann er mich mal gern haben (wie täglich im römischen Personennahverkehr beobachtet). Dann machen wir dieser Logik folgend noch ein paar Schritte mehr auf dem falschen Weg und plötzlich ist der Mensch nichts weiter als ein lästiger Störenfried, der nicht zulassen will, daß ich randaliere, Gewalt ausübe und Fans der gegnerischen Mannschaft verletze. Dann muß er halt weg, und im Eifer des Gefechtes greift man dann auch mal zu etwas drastischeren Mitteln. Der Heilige Thomas von Aquin war überzeugt, daß keine Gesellschaft je so kaputt sein könnte, daß sie die fundamentalen Normen des Naturgesetzes nicht anerkennte. Diese Normen werden direkt von der Natur der guten Dinge selbst bestimmt und legen unter anderem eben fest, daß andere Menschen nicht zu verletzen und schon gar nicht zu töten sind, es sei denn, bestimmte extreme Umstände erfordern es. Und wo sind die Umstände, die es erfordern, aus einem Fußballspiel eine Gewalt-Party zu machen? Oder Schwächere zu piesacken? Oder einer Oma keinen Sitzplatz anzubieten? Oder Leute nicht anständig aus einer Straßenbahn aussteigen zu lassen?

4 comments:

Anonymous said...

Gratuliere zum bestandenen Ethikexamen! Deine ganz eigene Ethik ist glücklicherweise weit mehr als so là là - wie heutiges Posting zeigt.
Vielleicht noch eine Ergänzung: die meisten Drängler drängeln nicht aus Bosheit, sondern aus Gedankenlosigkeit. Möglich, daß auch die meisten Gewalttaten mit einem mehr an Gedanken nicht stattgefunden hätten.

Der Herr Alipius said...

Stimmt. Die Menschen sind eher gedankenlos und unaufmerksam als bösartig. Aber das beweist doch, daß der Normalzustand, oder Reflexzustand oder Gedanken-nicht-einschalt-Zustand der ist, in dem man in eine Straßenbahn reindrängelt, obwohl Leute aussteigen wollen. Sollte es nicht eigentlich so sein, daß die Rücksichtnahme der Normalzustand ist, und daß man gewaltige gedankliche Anstrengungen vollbringen muß, bevor man es an Rücksicht oder gar Friedfertigkeit fehlen läßt?

Charlotte said...

Glückwunsch!
Manchmal träume ich, dass ich wieder in der Oberstufe bin und noch das Abitur machen müsse, das ist jedes mal sehr abgründig. Bin froh, dass ich sowas hinter mir habe. Weiter so, mein Sohn!

Unknown said...

Hmh, der Bogen zur Ethik ist sehr interessant, aber ich möchte auf den naturwissenschaftlichen Aspekt des ersten Absatzes zurückkommen. Der deutsche/österreichische Ansatz sieht auf den ersten Blick menschenfreundlicher aus, aber ist das nicht nur eine Frage der Effizienz? Nicht weniger, aber auch nicht mehr, beschreibbar mit den Gestzen der Hydrodynamik, d.h. alles eine Frage des Druckunterschieds und eine Frage der Sequenz, wann wo der Druck auftritt. Die Verhaltensweise hängt dann davon ab, was man als Gemeinschaft erreichen will UND welche Diziplin man dafür aufbringen möchte. Ethik ist dabei für mich recht weit hergeholt. Oder lässt sich schließen, dass die Italiener weniger Ethik haben als die Deutschen, während letztere weniger Ethik haben als Engländer, die eine Schlange bilden, um einzusteigen?

Nun stehe ich aber vor einem Problem, denn ich würde ja mal gerne etwas über die fundamentalen Normen und Werte lernen. Bisher habe ich da ein sehr naives Verständnis, dass mir sagt, dass wir auf der Suche nach fundamentalen Werten noch lange nicht zuende ist. Ok,Ok, alles geht zurück auf einen unendlich gütigen Gott, aber der hat sich in den vergangenen 3000 Jahren sehr unterschiedlich manifestiert, bzw. wurde sehr unterschiedlcih interpretiert. Je nach Umgebung, sozialer, wirtschaftlicher Situation, Herrschaftsform, Informationsstand, usw.usw. gibt es auch eine sehr unterschiedliche Ethik. Was sind denn z.B. diese extremen Umstände, die es erlauben einen Menschen zu töten?

Um die Kurve zu kriegen: Das Handeln von Menschen ist evtl. nur dadurch bestimmt das eigene Leben zu verbessern (gemeinsam sind wird stark, ich helfe damit mir geholfen wird). Das ist eine logische Folge, ein Naturgesetz. Wo aber ist die Grenze, an der darüber hinausgehenend eine (göttliche) Ethik anfängt?