DU!
So sieht es zumindesst das Time-Magazine in seiner am 25. Dezember erscheinenden Ausgabe.
Begründung: Wenn man sich das Jahr 2006 nicht durch die übliche Linse ansieht, dann sieht man eine Geschichte, die nicht von wenigen großen Männern und Frauen geschrieben wurde, sondern in Gemeinschaft und Zusammenarbeit von Millionen von Individuen überall auf unserem Planeten. Als Beiepisle werden genannt: Die allumfassende Wissenseite Wikipedia, das Video-Netzwerk YouTube oder die online-Großstadt MySpace. Ermöglicht wird dies durch das neue WWW. Das neue Web ist laut Time Magazine nicht mehr das Kinderschuh-Projekt von Tim Berners-Lee und schon gar nicht mehr das überhypte Dotcom-Web der späten Neunziger-Jahre. Im neuen WWW dreht sich alles darum, daß die Vielen den Wenigen die Macht entreißen, sich gegenseitig kostenfrei helfen und somit nicht nur die Welt verändern, sondern auch die Art, wie sich die Welt verändert. Es ist, so Time-Magazine, eine Revolution, für die wir reif sind. Es sei an der Zeit, daß die vorverdauten Nachrichten, an die wir uns gewähnt haben, durch ungeschliffene Einspeisungen aus Baghdad, Boston oder Peking ausbalanciert werden.
Soweit die mit viel Geigenschmalz und Blütenduft begleitete Einführung.
Diese ist nicht falsch. Aber, und auch dies gibt das Time-Magazine zu, es ist grotesk das Phänomen über Gebühr zu romantisieren. Der erste Grund liegt auf der Hand: Wo, wenn nicht im WWW, gibt es für so viele Individuen so viel Raum um so viel unvorstellbaren Schwachsinn abzuladen? Ein weiterer Grund: Nur weil die Mainstream-Nachrichten in ihren Reportagen zumindest in Amerika schon seit langem alles andere als unvoreigenommen sind, bedeutet dies nicht, daß die Kleinst-Journalisten am PC allesamt hehre Quellen ungefilterter Wahrheit sind. Wahrscheinlich ist jeder zweite Photoshop-Anwender heutzutage bereits geschickter im Fälschen von Photographien, als jener unselige Schreibtischtäter, der für Reuters ein Photo von der Beschießung Beiruts mit ein paar Extra-Ruinen und Zusatz-Rauchschwaden ausstattete und sich dabei einzig auf das "Clone"-Werkzeug verließ. Hier der Vergleich:
Original:
Fälschung:
Besonders in den Rauchwolken ist der exzessive Gebrauch des "Clone"-Werkzeugs gut zu sehen. Wer genau hinschaut, kann auch eine der Ruinen mindestens dreimal an verschiedenen Stellen auftauchen sehen.
Klar, das WWW ist genau der Ort, an dem die Wahrheit über solche Schwindeleien sich in Windeseile verbreitet. Das ist nicht unbedingt schlecht. Andererseits bietet das Web natürlich auch Raum, um die eigenen Schwindeleien einzustreuen. Und die Lorbeeren, die man für das Entdecken eines frisierten Photos oder Artikels einheimst, können das bisher eher zufällige Aufdecken solcher Methoden schnell zu einer Hexenjagd mutieren lassen.
Ein weiteres dickes Fragezeichen wird sichtbar, wenn man bedenkt, daß auf YouTube jetzt schon ein großer Anteil der Filme einfach aus dem Fernsehen oder von Videos/DVDs gezogen und ins WWW gestellt wurde, um entweder zu prüfen, wie weit man mit Copyright-Verletzungen durchkommt oder um die breite Masse durch Teasing zum Kauf anzuregen. Kreativität? Neuer Blickwinkel? Ja, klar. Die paar selbstgebastelten Filme sind oft hintereinander geschaltete Stills und noch öfter inhaltlich belanglos.
Mein größtes Problem ist die Qualität. In einer Zeit, wo man schon dankbar ist, wenn wenigstens noch die Mittelmäßigkeit feierlich zum Standard erklärt und zelebriert wird, drohen uns jetzt - nach der in drei Tagen erscheinenden Aufmunterung im Time-Magazine - natürlich weitere Milliarden von WWW-Beiträgen, in denen die Anbieter von Photos der Marke "Meine Katze hebt das rechte Bein! Süüüüß!", Autoren von Zerebraljuwelen wie "Hey Leutz, hab mal einen freetype getextet. Feeded mich mal back, ob die Stylez kicken!" und Regisseure von preisverdächtigen Steifen a la "Meine Kumpels rotzbesoffen auf dem Oktoberfest" alles abladen, was nicht vorher einem Nuklearschlag zum Opfer gefallen ist. Versteht mich nicht falsch. Ich verlange keine Zensur. Ich beklage aber die Tatsache, daß 90% des WWW-Wachstums reinem Müll zu verdanken sein werden, und man sich daher künftig um so mehr anstrengen muß, um die wirklich relevanten Informationen zu finden. Ich kann mir gut vorstellen, daß Suchmaschinen bald veraltet sein werden und die Leute sich mehr auf bekannte Seiten und auf die dort empfohlenen Links verlassen. Wir werden sehen.
Andererseits gibt das WWW natürlich auch mir die Möglichkeit, meine Sicht der Dinge an den Tag zu bringen. Also sollte ich vielleicht die Klappe nicht ganz so weit aufreißen.
2 days ago
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